--- pictures of Berlin çapuling below ---
Die
Nachrichten aus der Türkei nehmen kein Ende. Die Proteste dauern nun etwa zwei
Wochen an. Nach wie vor sind im ganzen Land die Menschen auf den Straße und
demonstrieren, nach wie vor kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der
Polizei, bei denen diese mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgeht. Und nach wie vor spricht Premierminister Erdoğan von „Provokateuren“.
Eine
Darstellung, über die die Protestierenden nur den Kopf schütteln können. „Wir
sind keine Provokateure“, betont der 26-jährige Student Sinan.
„Er ist derjenige, der provoziert.“ Für den jungen Mann steht eins fest: Das,
was die Menschen auf die Straße gebracht hat, war der autoritäre Führungsstil Erdoğans.
Sinan zufolge versuchte dieser, Einfluss auf alle Aspekte des Lebens der
Menschen in der Türkei zu nehmen; seien es Einschränkungen für den Kauf von
Alkohol, die Anzahl der Kinder, die eine Frau bekommen solle, ja sogar die
Zusammensetzung von Brot – oder eben das Abholzen eines Parks im Zentrum
Istanbuls und der Wiederaufbau von Militärkasernen als Einkaufszentrum. „Es war
genug“, sagt Sinan erregt. „Selbst meine Eltern können sich nicht auf eine
solche Art und Weise in mein Leben einmischen!“
Für
ihn kamen die Proteste nicht überraschend. Er wusste, dass irgendwann etwas passieren
würde – nur wann, das wusste er nicht. Sinan spricht von angestauter Wut, die sich
jetzt und hier entladen hat. „Es geht hier nicht um einen Baum. Am Anfang, am
27. Mai, ja, da ging es um einen Baum. Aber am 28. Mai schon nicht mehr. Jetzt
geht es um Demokratie.“
Sinan
erklärt, dass die jetzige Bewegung keineswegs aus dem Nichts kommt. Bereits
seit drei Jahren setzt sich die „Solidarity Taksim Bewegung“ mit den
Umbauplänen für Istanbuls Innenstadt auseinander. Hier engagieren sich die
Vertreter von Architekten- und Stadtplanungsverbänden, politische Parteien,
Nichtregierungsorganisationen und viele andere Gruppierungen dafür, in
Entscheidungen mit einbezogen zu werden. „Erdoğan ist kein Architekt. Er ist
auch kein Arzt, kein Stadtplaner, kein Ernährungsexperte, kein Familienplaner –
aber er möchte der einzige Entscheidungsträger sein.“ Für Sinan bedeutet das,
dass der Premierminister sich in Bereiche einmischt, die ihn nichts angehen.
„Es geht ihn nichts an, wie viele Kinder wir bekommen oder ob wir religiös sind
– das ist unsere Sache, und es ist sehr persönlich“, erklärt er.
Erdoğan
hat immer wieder betont, die Protestierenden seien ein paar Extremisten und
„Marodeure“, wie deutsche Medien das türkische Word „çapulcu“ oft übersetzt
haben. Sinan sieht das anders: „Wer da protestiert? Das ist die Jugend der
Türkei!“ Er nimmt Bezug auf eine Studie der Istanbul Bilgi University, die
zwischen dem 03. und 04. Juni durchgeführt wurde. Dieser Befragung zufolge sind
über 60% der Menschen auf dem Taksim-Platz zwischen 19 und 30 Jahren alt. Mehr
als die Hälfte von ihnen gab an, sich vorher niemals an einer Demonstration
beteiligt zu haben und ebenfalls über 50% bezeichnen sich selbst als nicht
politisch. „Was sie auf die Straße gebracht hat, ist ein autokratischer und
patriarchaler Premierminister, der versucht, sich als jedermanns Vater aufzuspielen“,
erklärt Sinan. Die Bezeichnung „çapulcu“ – eigentlich negativ konnotiert – hat
die Protestbewegung nun als Selbstbezeichnung übernommen. Nicht nur auf den
Demonstrationen in der Türkei, auch auf den Solidaritäts-Kundgebungen etwa in
Berlin sieht man Menschen, die sich das Wort groß auf die Brust oder auf den
Rücken geschrieben haben. Und in sozialen Medien wie facebook haben viele junge
Menschen das Wort als Vorsatz mit ihrem Benutzernamen verknüpft. „Es beschreibt
uns ganz gut“, findet Sinan. „Wir haben es übernommen und verinnerlicht. Es hat
jetzt eine neue Bedeutung: Es meint Menschen, die ihre Rechte einfordern.“
Die „Çapulcus“
geben sich große Mühe, dem Premierminister keinerlei Angriffsfläche zu bieten.
Immer wieder sieht man Menschen, die mit großen Müllsäcken durch die Straßen
laufen und Müll einsammeln. Im Gezi-Park wurden Verhaltensregeln
bekanntgegeben, um einen friedlichen Protest zu ermöglichen. Sinan selbst
engagiert sich als Freiwilliger in einem Kommunikationsnetzwerk. Dieses
Netzwerk versucht, eingehende Informationen zu verifizieren, bevor diese über
verschiedenen Social–Media-Kanäle verbreitet werden. „Es sind viele
Fehlinformationen verbreitet worden. Das wollen wir verhindern“, so Sinan.
Seine Arbeit verrichtet er vor allem am Computer und am Telefon. „Wenn ich eine
Meldung über Verletzte bekomme, rufe ich bei den jeweiligen Stellen an und
versuche, die Informationen von den Ärzten bestätigt zu bekommen.“ Das Ziel des
Netzwerkes ist es, den Menschen sowohl in der Türkei als auch im Ausland
verlässliche Informationen zu liefern.
„Wir
haben von vorangehen Protesten wie dem Arabischen Frühling oder Occupy
Wallstreet gelernt. Wir wissen, welche Rolle soziale Medien spielen, wie wir
uns verhalten müssen und wie wir die öffentlichen Medien in die Knie zwingen.
Das hier ist der ausgereifteste zivile Widerstand des letzten Jahrzehnts“,
findet Sinan.
Er
ist sehr dankbar für die Unterstützung, die er und seine Freunde von Menschen
aus aller Welt erhalten. Erdoğans Vorwürfe, die Proteste seien aus dem Ausland
gesteuert, weist er jedoch als absurd von sich. „Ich weiß, wer neben mir
protestiert. Da gibt es keine Beeinflussung von außen. Auch deswegen kämpfen
wir gegen Fehlinformationen.“ Dennoch betont Sinan die Rolle der ausländischen
Medien. So habe die Nachrichtenagentur Reuters mitten aus den Protesten heraus
berichtet, während das türkische Fernsehen den Menschen eine Dokumentation über
Pinguine zeigte. Dies bewegte Menschen dazu, vor den Sitzen des Fernsehsenders HaberTürk zu demonstrieren. Die türkischen Sender berichten nun zwar auch
über die Proteste, doch in Sinans Augen berichten sie auf einer
regierungstreuen Linie und sprechen immer wieder von den Protestierenden als
Provokateuren.
Sinan
ist auch dankbar für die Solidaritätskundgebungen, die überall im Ausland
stattfinden. „Diese Menschen unterstützen uns sehr. Auch sie üben Druck auf
unsere Medien aus.“ Ganz besonders betont er all jene Menschen, die selbst
Videos und Fotos über die sozialen Medien verbreiten. „Dafür braucht man Rückgrat.
Dafür braucht man einen Arsch in der Hose. Und ich bin ihnen so dankbar.“
Als
Sinan von der Situation auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park spricht, schwingt
Begeisterung in seiner Stimme. Seit knapp einer Woche ist dieser Bereich von
den Protestierenden besetzt, die Auseinandersetzungen mit der Polizei haben
sich in andere Gebiete verlagert. Der Gezi-Park wurde zum Zentrum und Symbol
der Protestbewegung, Tausende campen hier, es gibt Konzerte, eine Bibliothek,
Workshops zu unzähligen Themen, die Menschen feiern. Sinan beschreibt eine für
ihn bis dahin unbekannte Solidarität zwischen Menschen, die sich nicht kennen.
Selbst zwischen Menschen, die sich früher geweigert hätten, einander die Hand
zu reichen. Ein Beispiel dafür sind die verfeindeten türkischen Fußballvereine
Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe, die nun Schulter an Schulter
protestieren. „Ich habe so viele wunderbare Dinge gesehen. Es ist wirklich
außergewöhnlich.“ Er erinnert sich an Taksim als eine hektische, überfüllte
Gegend mit großer Polizeipräsenz. „Trotzdem hat man sich dort nie sicher
gefühlt. Jetzt ist die Polizei weg und die Menschen kontrollieren den Platz.
Taksim war nie sicherer“, betont Sinan.
Diese
Solidarität ist auch der Grund, aus dem Sinan überzeugt ist, dass die Bewegung
erfolgreich ist. „Es geht nicht darum, ob sich etwas ändern wird“, stellt er
heraus. „Es ist schon alles anders. Wir haben es geschafft, uns
zusammenzuschließen.“ Die für den jungen Mann nun bedeutsame Frage ist, wann
die Protestierenden den Platz verlassen werden. Und seine Antwort darauf ist
bestimmt: „Wenn unsere Forderungen erfüllt sind.“
Sinan
nennt die fünf Hauptforderungen von "Taksim Solidarity". Zuallererst soll der Gezi-Park ein Park bleiben.
„Das steht außer Frage. Selbst, wenn der Platz vorher keine symbolische
Bedeutung hatte – jetzt hat er sie“, erklärt Sinan. Doch bisher hält Erdoğan nach wie vor an seinen
Umbauplänen fest. Als Zweites nennt Sinan die Forderung nach dem Rücktritt der
Verantwortlichen für die Polizeigewalt. Der dritte Punkt fordert das Verbot des
Einsatzes von Tränengas. Die Protestierenden fordern außerdem die Freilassung
der im Zuge der Proteste inhaftierten Menschen. Und letztlich verlangen sie ein
Ende der Einschränkungen in Bezug auf Versammlungen und Proteste in
öffentlichen Räumen. Eine Militärintervention schließt der junge Mann
allerdings aus, es sei nur eine verschwindende Minderheit, die das befürworte.
„Das
sind unsere fünf dringlichsten Forderungen“, erklärt Sinan. Doch in seinen
Augen dienen diese Forderungen zunächst dazu, die Solidarität zwischen den
Menschen aufrecht zu erhalten. „Ihre Erfüllung wird den Leuten zeigen, dass wir
gemeinsam etwas bewegen können.“ Doch das eigentliche Ziel geht in Sinans Augen
weit über diese Forderungen hinaus. „Unsere wichtigste Forderung ist die
Demokratie“, betont er. Und er ist überzeugt davon, dass der Premierminister
irgendwann von seiner Position abweichen muss: „Das ist unser Land, das sind
unsere öffentlichen Plätze, unsere Parks. Wir werden hier bleiben, bis wir
bekommen, was wir wollen; bis wir eine bessere Demokratie haben.“
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