Montag, 10. Juni 2013

Türkei, Taksim und Tränengas: „Es geht nicht darum, ob sich etwas ändern wird. Es ist schon alles anders.“



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Die Nachrichten aus der Türkei nehmen kein Ende. Die Proteste dauern nun etwa zwei Wochen an. Nach wie vor sind im ganzen Land die Menschen auf den Straße und demonstrieren, nach wie vor kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei, bei denen diese mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgeht. Und nach wie vor spricht Premierminister Erdoğan von „Provokateuren“.

Eine Darstellung, über die die Protestierenden nur den Kopf schütteln können. „Wir sind keine Provokateure“, betont der 26-jährige Student Sinan. „Er ist derjenige, der provoziert.“ Für den jungen Mann steht eins fest: Das, was die Menschen auf die Straße gebracht hat, war der autoritäre Führungsstil Erdoğans. Sinan zufolge versuchte dieser, Einfluss auf alle Aspekte des Lebens der Menschen in der Türkei zu nehmen; seien es Einschränkungen für den Kauf von Alkohol, die Anzahl der Kinder, die eine Frau bekommen solle, ja sogar die Zusammensetzung von Brot – oder eben das Abholzen eines Parks im Zentrum Istanbuls und der Wiederaufbau von Militärkasernen als Einkaufszentrum. „Es war genug“, sagt Sinan erregt. „Selbst meine Eltern können sich nicht auf eine solche Art und Weise in mein Leben einmischen!“

Für ihn kamen die Proteste nicht überraschend. Er wusste, dass irgendwann etwas passieren würde – nur wann, das wusste er nicht. Sinan spricht von angestauter Wut, die sich jetzt und hier entladen hat. „Es geht hier nicht um einen Baum. Am Anfang, am 27. Mai, ja, da ging es um einen Baum. Aber am 28. Mai schon nicht mehr. Jetzt geht es um Demokratie.“

Sinan erklärt, dass die jetzige Bewegung keineswegs aus dem Nichts kommt. Bereits seit drei Jahren setzt sich die „Solidarity Taksim Bewegung“ mit den Umbauplänen für Istanbuls Innenstadt auseinander. Hier engagieren sich die Vertreter von Architekten- und Stadtplanungsverbänden, politische Parteien, Nichtregierungsorganisationen und viele andere Gruppierungen dafür, in Entscheidungen mit einbezogen zu werden. „Erdoğan ist kein Architekt. Er ist auch kein Arzt, kein Stadtplaner, kein Ernährungsexperte, kein Familienplaner – aber er möchte der einzige Entscheidungsträger sein.“ Für Sinan bedeutet das, dass der Premierminister sich in Bereiche einmischt, die ihn nichts angehen. „Es geht ihn nichts an, wie viele Kinder wir bekommen oder ob wir religiös sind – das ist unsere Sache, und es ist sehr persönlich“, erklärt er.

Erdoğan hat immer wieder betont, die Protestierenden seien ein paar Extremisten und „Marodeure“, wie deutsche Medien das türkische Word „çapulcu“ oft übersetzt haben. Sinan sieht das anders: „Wer da protestiert? Das ist die Jugend der Türkei!“ Er nimmt Bezug auf eine Studie der Istanbul Bilgi University, die zwischen dem 03. und 04. Juni durchgeführt wurde. Dieser Befragung zufolge sind über 60% der Menschen auf dem Taksim-Platz zwischen 19 und 30 Jahren alt. Mehr als die Hälfte von ihnen gab an, sich vorher niemals an einer Demonstration beteiligt zu haben und ebenfalls über 50% bezeichnen sich selbst als nicht politisch. „Was sie auf die Straße gebracht hat, ist ein autokratischer und patriarchaler Premierminister, der versucht, sich als jedermanns Vater aufzuspielen“, erklärt Sinan. Die Bezeichnung „çapulcu“ – eigentlich negativ konnotiert – hat die Protestbewegung nun als Selbstbezeichnung übernommen. Nicht nur auf den Demonstrationen in der Türkei, auch auf den Solidaritäts-Kundgebungen etwa in Berlin sieht man Menschen, die sich das Wort groß auf die Brust oder auf den Rücken geschrieben haben. Und in sozialen Medien wie facebook haben viele junge Menschen das Wort als Vorsatz mit ihrem Benutzernamen verknüpft. „Es beschreibt uns ganz gut“, findet Sinan. „Wir haben es übernommen und verinnerlicht. Es hat jetzt eine neue Bedeutung: Es meint Menschen, die ihre Rechte einfordern.“

Die „Çapulcus“ geben sich große Mühe, dem Premierminister keinerlei Angriffsfläche zu bieten. Immer wieder sieht man Menschen, die mit großen Müllsäcken durch die Straßen laufen und Müll einsammeln. Im Gezi-Park wurden Verhaltensregeln bekanntgegeben, um einen friedlichen Protest zu ermöglichen. Sinan selbst engagiert sich als Freiwilliger in einem Kommunikationsnetzwerk. Dieses Netzwerk versucht, eingehende Informationen zu verifizieren, bevor diese über verschiedenen Social–Media-Kanäle verbreitet werden. „Es sind viele Fehlinformationen verbreitet worden. Das wollen wir verhindern“, so Sinan. Seine Arbeit verrichtet er vor allem am Computer und am Telefon. „Wenn ich eine Meldung über Verletzte bekomme, rufe ich bei den jeweiligen Stellen an und versuche, die Informationen von den Ärzten bestätigt zu bekommen.“ Das Ziel des Netzwerkes ist es, den Menschen sowohl in der Türkei als auch im Ausland verlässliche Informationen zu liefern.

„Wir haben von vorangehen Protesten wie dem Arabischen Frühling oder Occupy Wallstreet gelernt. Wir wissen, welche Rolle soziale Medien spielen, wie wir uns verhalten müssen und wie wir die öffentlichen Medien in die Knie zwingen. Das hier ist der ausgereifteste zivile Widerstand des letzten Jahrzehnts“, findet Sinan.

Er ist sehr dankbar für die Unterstützung, die er und seine Freunde von Menschen aus aller Welt erhalten. Erdoğans Vorwürfe, die Proteste seien aus dem Ausland gesteuert, weist er jedoch als absurd von sich. „Ich weiß, wer neben mir protestiert. Da gibt es keine Beeinflussung von außen. Auch deswegen kämpfen wir gegen Fehlinformationen.“ Dennoch betont Sinan die Rolle der ausländischen Medien. So habe die Nachrichtenagentur Reuters mitten aus den Protesten heraus berichtet, während das türkische Fernsehen den Menschen eine Dokumentation über Pinguine zeigte. Dies bewegte Menschen dazu, vor den Sitzen des Fernsehsenders HaberTürk zu demonstrieren. Die türkischen Sender berichten nun zwar auch über die Proteste, doch in Sinans Augen berichten sie auf einer regierungstreuen Linie und sprechen immer wieder von den Protestierenden als Provokateuren.

Sinan ist auch dankbar für die Solidaritätskundgebungen, die überall im Ausland stattfinden. „Diese Menschen unterstützen uns sehr. Auch sie üben Druck auf unsere Medien aus.“ Ganz besonders betont er all jene Menschen, die selbst Videos und Fotos über die sozialen Medien verbreiten. „Dafür braucht man Rückgrat. Dafür braucht man einen Arsch in der Hose. Und ich bin ihnen so dankbar.“

Als Sinan von der Situation auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park spricht, schwingt Begeisterung in seiner Stimme. Seit knapp einer Woche ist dieser Bereich von den Protestierenden besetzt, die Auseinandersetzungen mit der Polizei haben sich in andere Gebiete verlagert. Der Gezi-Park wurde zum Zentrum und Symbol der Protestbewegung, Tausende campen hier, es gibt Konzerte, eine Bibliothek, Workshops zu unzähligen Themen, die Menschen feiern. Sinan beschreibt eine für ihn bis dahin unbekannte Solidarität zwischen Menschen, die sich nicht kennen. Selbst zwischen Menschen, die sich früher geweigert hätten, einander die Hand zu reichen. Ein Beispiel dafür sind die verfeindeten türkischen Fußballvereine Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe, die nun Schulter an Schulter protestieren. „Ich habe so viele wunderbare Dinge gesehen. Es ist wirklich außergewöhnlich.“ Er erinnert sich an Taksim als eine hektische, überfüllte Gegend mit großer Polizeipräsenz. „Trotzdem hat man sich dort nie sicher gefühlt. Jetzt ist die Polizei weg und die Menschen kontrollieren den Platz. Taksim war nie sicherer“, betont Sinan.

Diese Solidarität ist auch der Grund, aus dem Sinan überzeugt ist, dass die Bewegung erfolgreich ist. „Es geht nicht darum, ob sich etwas ändern wird“, stellt er heraus. „Es ist schon alles anders. Wir haben es geschafft, uns zusammenzuschließen.“ Die für den jungen Mann nun bedeutsame Frage ist, wann die Protestierenden den Platz verlassen werden. Und seine Antwort darauf ist bestimmt: „Wenn unsere Forderungen erfüllt sind.“

Sinan nennt die fünf Hauptforderungen von "Taksim Solidarity". Zuallererst soll der Gezi-Park ein Park bleiben. „Das steht außer Frage. Selbst, wenn der Platz vorher keine symbolische Bedeutung hatte – jetzt hat er sie“, erklärt Sinan. Doch bisher hält Erdoğan nach wie vor an seinen Umbauplänen fest. Als Zweites nennt Sinan die Forderung nach dem Rücktritt der Verantwortlichen für die Polizeigewalt. Der dritte Punkt fordert das Verbot des Einsatzes von Tränengas. Die Protestierenden fordern außerdem die Freilassung der im Zuge der Proteste inhaftierten Menschen. Und letztlich verlangen sie ein Ende der Einschränkungen in Bezug auf Versammlungen und Proteste in öffentlichen Räumen. Eine Militärintervention schließt der junge Mann allerdings aus, es sei nur eine verschwindende Minderheit, die das befürworte.

„Das sind unsere fünf dringlichsten Forderungen“, erklärt Sinan. Doch in seinen Augen dienen diese Forderungen zunächst dazu, die Solidarität zwischen den Menschen aufrecht zu erhalten. „Ihre Erfüllung wird den Leuten zeigen, dass wir gemeinsam etwas bewegen können.“ Doch das eigentliche Ziel geht in Sinans Augen weit über diese Forderungen hinaus. „Unsere wichtigste Forderung ist die Demokratie“, betont er. Und er ist überzeugt davon, dass der Premierminister irgendwann von seiner Position abweichen muss: „Das ist unser Land, das sind unsere öffentlichen Plätze, unsere Parks. Wir werden hier bleiben, bis wir bekommen, was wir wollen; bis wir eine bessere Demokratie haben.“








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