Montag, 19. November 2012

Prozess gegen Journalisten in der Türkei auf Februar vertagt


- Forderungen der Anwälte abgelehnt - Hungerstreik nach offiziellen Angaben beendet -
In der Türkei ist die zweite Woche der Anhörungen gegen 44 Journalisten zu Ende gegangen. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder der „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK) und somit einer terroristischen Organisation zu sein. Mehrere internationale Beobachter waren beim Prozess anwesend, unter anderem der Vorsitzende der Europäischen Journalistenföderation Barry White.
Die fünf Prozesstage dienten die vor allem der teilweisen Verlesung der 800 Seiten umfassenden Anklageschrift. Am Montag hatte das Gericht mit der Verlesung begonnen. Dies geschah jedoch in Abwesenheit von Publikum, Anwälten und Angeklagten. Das Gericht hatte zuvor dem Angeklagten Kenan Kırkaya das Wort verweigert, als dieser sich zum Hungerstreik in türkischen Gefängnissen äußern wollte. Dies war für den Prozess von Bedeutung, da sich die inhaftierten Journalisten selbst im Hungerstreik befanden. Letztendlich verließen Angeklagte und Anwälte aus Protest den Saal, das Gericht fuhr alleine mit dem Prozess fort.
Anwalt Sinan Zincir forderte deswegen nach Angaben der Firat News Agency (NFA) am Dienstag, die am Vortag behandelten Seiten erneut zu verlesen. Dazu habe aber aus Sicht des Gerichtes kein Grund bestanden, da die Anwälte und Angeklagten dem Prozess aus freiem Willen ferngeblieben seien. Zudem berichtete NFA, Zincir habe das Gericht gefragt, warum die inhaftierten Hungerstreikenden am Vortag nach Ende der Anhörung nicht wie sonst mit Zucker und Salz versorgt worden seien. Dem Gericht zufolge habe die Gefängnisaufsicht erklärt, dies sei ihres Erachtens nach nicht nötig. Die Gefangenen bräuchten nur Wasser, da sie Salz und Zucker in Form von Kerzen, die sie nachts in ihren Zellen äßen, zu sich nähmen.

Am Ende der Woche formulierten die Anwälte ihre Forderungen. Sie wiesen erneut daraufhin, dass ein Großteil der Beweise gegen ihre Mandanten rechtswidrig zustande gekommen sei. Telefone seien abgehört und Emails abgefangen worden. Außerdem sei höchst fraglich, ob die anonymen Zeugen, auf deren Aussagen die Anschuldigungen zum größten Teil beruhen, überhaupt existieren. Die Anwälte erklärten wiederholt, sie seien durchgehend in polizeilicher Bürokratensprache verfasst. Anwalt Ramazan Demir erklärte, die Aussagen sollten von einem Professor für Kommunikationswissenschaften analysiert werden. Mit dieser Aussage unterstrich er, wie unglaubwürdig die Beweise in den Augen der Anwälte sind.
Die Verteidigung forderte deswegen, die Identität der geheimen Zeugen preiszugeben und die rechtswidrigen Beweismittel aus der Anklageschrift zu entfernen. Zudem forderten sie, das Justizministerium solle über den Hungerstreik ihrer Mandanten informiert werden. Richter Ali Alçık wies ihre Forderungen zurück. Über diese Dinge sei bereits im September entschieden worden, eine erneute Entscheidung sei also unnötig, so das Gericht. Letztendlich wurden nach Angaben der Zeitung Evresel die beiden Inhaftierten Çiğdem Alsan und Oktay Candemir freigelassen und der Prozess auf den 4. Februar 2013 vertagt.

Von den hungerstreikenden Angeklagten hatten sich fünf Dem Protest von Beginn an angeschlossen. Der Gesundheitszustand der Streikenden in türkischen Gefängnissen hatte sich in der letzten Woche immer mehr verschlechtert. Laut offiziellen Angaben befanden sich zuletzt 1700 Gefangene im Hungerstreik, einige davon inzwischen seit beinahe 70 Tagen. Andere Quellen sprechen von etwa 10000 Hungerstreikenden. Diese drastische Maßnahme, die den Forderungen nach einem Ende der Isolationshaft von PKK-Führer Abdullah Öcalan und dem Recht auf Bildung und Verteidigung in Kurdisch Nachdruck verleihen soll, wurde für die türkische Regierung zu einem immer größeren Problem.
Premierminister Erdoğan behauptete bei seinem Besuch in Berlin Anfang November, der Hungerstreik sei eine Lüge und existiere real gar nicht. Zeitgleich berichtete aber Justizminister Sadullah Ergin seiner deutschen Amtskollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, dass aktuell 683 Gefangene in 66 türkischen Gefängnissen die Nahrungsaufnahme verweigerten.

In der türkischen Stadt Izmir kam es Ende letzter Woche zu einer Demonstration von Angehörigen der Hungerstreikenden. Diese forderten ein sofortiges Einlenken der Regierung. Viele Mütter von Inhaftierten schlossen sich dem Protest an. Sie forderten eine Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts und appellierten dabei vor allem an das Gefühl der Menschen.  Hazal Suncak, die selbst Angehörig im Gefängnis hat, erklärte der Onlinezeitung Bianet: „Wir wollen nicht, dass junge Menschen in diesem Land sterben. Weder die in den Bergen noch die im Militär. Die  Mütter haben genug gelitten. Wir rufen die Regierung an, wir rufen alle an.“

Samstag Abend nahm der Hungerstreik eine überraschende Wendung. Öcalans Bruder Mehmet Öcalan hatte an diesem Tag den PKK-Führer auf der Insel Imralı besucht, wo er seit 1999 in Isolationshaft sitzt. Laut türkischen Medien habe dieser ihm den Auftrag gegeben, die kurdischen Gefangenen und Politiker zum sofortigen Ende des Hungerstreiks aufzurufen. „Diese Aktion hat ihr Ziel erreicht. Sie sollten den Hungerstreik unverzüglich beenden“, so die Worte Abdullah Öcalans.
Daraufhin seien Abgeordnete der pro-kurdischen Partei BDP in verschiedene Gefängnisse gegangen, um die Botschaft Öcalans bekannt zu geben.
Laut Angaben der Zeitung Turkishpress beendeten im Gefängnis von Buca, einem Vorort von İzmir, 520 Inhaftierte ihren Hungerstreik sofort, nachdem ihre Anwälte ihnen die Botschaft überbracht hatten. Die türkischen Medien erklärten den Hungerstreik am Sonntag, den 18. November 2012 für beendet.

Donnerstag, 15. November 2012

„Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum“

Diesen Montag wurde in einem Vorort von İstanbul der KCK-Prozess gegen 44 Journalisten forgesetzt. 38 von ihnen sind seit Monaten ohne Verurteilung in Haft. Eben diese 38 haben sich auch dem Hungerstreik in türkischen Gefaengnissen angeschlossen. 5 von ihnen haben seit über 60 Tagen keine Nahrung zu sich genommen. Und was tut das türkische Gericht? Es verhandelt lieber für sich alleine. Ohne Publikum, ohne Anwaelte und ohne Angeklagte. Es waere laecherlich, wenn es nicht so traurig waere.

Ich bin am ersten Prozesstag nach Silivri gefahren, um mir dieses Trauerspiel anzusehen. Hier meine Beobachtungen vom 12.11.201, veröffentlicht auf der Website der Deutschen Journalistinnen und Journalisten-Union (DJU) in ver.di 
 
„Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum.“
Fortsetzung des Prozesses gegen 44 Journalisten in Istanbul.


Es ist ein sonniger Wintertag in der türkischen Stadt Silivri, einem Küstenort etwa 80 km entfernt von Istanbul. Den meisten Bewohnern der Großstadt ist er vor allem als willkommener Ausflugsort für einen Tag am Strand bekannt. Doch nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt wurde am heutigen Montag der Prozess gegen 44 überwiegend kurdische Journalisten fortgesetzt. 38 von ihnen befinden sich seit Monaten in Haft. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder einer terroristischen Organisation zu sein. Es handelt sich dabei um die KCK, den zivilen Arm der Arbeiterpartei Kurdistands (PKK). Überschattet wird der Prozess, der Mitte September vertagt wurde, vom Hungerstreik der Inhaftierten.
Gerichtsgebäude in Silivri
Der erste von fünf angesetzten Prozesstagen endete jedoch sehr schnell. Das Gericht kam nicht über die Überprüfung der Anwesenheit hinaus. Wie auch zu Beginn des Prozesses antworteten die Angeklagten mit „Ez li virim“, „Ich bin hier“ auf kurdisch. Und ebenso wie zu Prozessbeginn tat Richter Ali Alçık so, als habe er das nicht bemerkt. Auch ihre Adresse gaben die meisten Angeklagten in ihrer Muttersprache an. Manche von ihnen sagten jedoch statt dessen „Ez weger daxwazim“, „Ich möchte einen Übersetzer“. Auch hier reagierte der Richter mit den Worten „Das ist Ihre Adresse. Setzen Sie sich.“ Er ließ sich scheinbar durch nichts von der vorgesehenen Prozedur abbringen.
Als der Angeklagte Kenan Kırkaya sich jedoch erhob und ankündigte, er wolle zum Hungerstreik Stellung nehmen, verweigerte Alçık ihm das Wort. Dieses Thema habe mit dem Prozess nichts zu tun.

In der Türkei befinden sich zur Zeit mehrere Tausend inhaftierter Kurden im Hungerstreik. Um ihren Forderungen nach dem Recht auf Ausbildung und Verteidigung vor Gericht in Kurdisch und dem Ende der Isolationshaft des PKK-Führers Abdullah Öcalan Nachdruck zu verleihen, traten sie am 12. September in den Hungerstreik. Einige von ihnen haben seit über 60 Tagen keine Nahrung zu sich genommen. Viele weitere Inhaftierte schlossen sich in den letzten Wochen dem Streik an.

Kırkaya bestand im Gerichtssaal darauf sich zur Sache zu äußern. Als andere Angeklagte in in der Diskussion mit dem Richter unterstützten, drohte dieser, Kırkaya aus dem Saal bringen zu lassen. Daraufhin erhoben sich alle Angeklagten und erklärten, sie werden den Raum gemeinsam verlassen. Der Richter reagierte darauf mit einer Unterbrechung der Verhandlung für 15 Minuten und einer Räumung des gesamten Gerichtssaales. Unter dem Applaus der Zuschauer verließen die Angeklagten den Raum.

Damit war der öffentliche Teil der Verhandlung für diesen Tag jedoch beendet. Das Gericht erklärte, aufgrund des Protestes im Publikum sei dieses nun im Saal nicht mehr zugelassen. Die Anwälte protestierten, die Angeklagten weigerten sich, unter diesen Umständen zurückzukehren. Letztendlich verließen auch die Anwälte das Gericht als Zeichen des Protestes. Dieses setzte die Verhandlung alleine fort.
„Im Gerichtssaal sind keine Anwälte, keine Angeklagten und keine Zuschauer, nur der Richter und die Staatsanwaltschaft. Und die lesen sich die Anklageschrift jetzt selber vor“, erklärte Eren Keskin, eine der Anwältinnen. Sie erklärt, alle 38 inhaftierten Angeklagten seien im Hungerstreik, fünf von Ihnen schon seit dem ersten Tag. Ihnen gehe es dementsprechend schlecht, sie hätten sehr stark abgenommen. Als ihre Mandanten sich vor Gericht erklären wollten, sei Ihnen dieses Recht abgesprochen worden. In diesem Verfahren gehe es um Journalisten, aber in der Türkei würden Kurden aller Professionen kriminalisiert. „Die kurdischen Rechte sind seit der Gründung der Republik außer Kraft“, so Keskin.
Pervin Bulda, Abgeordnete der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) erklärte, die Forderungen der Angeklagten seien alle angemessen, die Türkei würde den Menschen aber keine Möglichkeit bieten, dafür einzutreten. Damit werde gegen die Prinzipien des Rechtsstaates verstoßen. Man müsse den Weg bereiten für Veränderung, hin zu Frieden, Demokratie und Menschenrechten. Auch Bulda verurteilt die Entscheidung des Gerichts: „Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum, ohne die Anwälte, und ohne die Angeklagten.“ 
Pressekonferenz der Anwälte
Unter den Beobachtern des Prozesses war auch Belma Yıldıztaş mit ihrer sechs Monate alten Tochter Zerya Zin. Ihr Mann, der 30-jährige İsmail Yıldız, ist einer der Angeklagten. Die Vorwürfe gegen ihn beruhen – wie so viele andere auch – auf rechtswidrig aufgezeichneten Telefonaten, abgefangenen Emails und widersprüchlichen anonymisierten Zeugenaussagen. Angeblich sei er der Presseverantwortliche der Terrororganisation gewesen. Als freier Journalist hatte Yıldız für verschiedene Zeitungen berichtet, darunter auch die in der Türkei verbotene Fırat News Agency, die ihren Sitz in den Niederlanden hat.
Belma Yıldıztaş
„Der Staat weiß nicht, was er tun soll“, erklärte Belma. „Deswegen wird der Prozess immer weiter hinausgezögert und verlängert. Solange der Staat keine Entscheidung trifft, können wir nur warten.“ Seit Dezember letzten Jahres sei ihr Mann im Gefängnis. Die Geburt seines Kindes habe er nicht miterlebt. Sollte er verurteilt werden, drohen ihm bis zu 12 Jahre Haft.
Seit einer Woche befindet auch Yıldız sich im Hungerstreik. Seine Frau lehnt diese Form des Protests kategorisch ab. Sie erklärte außerdem, ihr Mann und viele andere hätten sich aus Solidarität angeschlossen. „Die meisten von ihnen streiken nicht dauerhaft. Sie hungern für etwa zehn Tage, dann machen sie eine kurze Pause.“ Um Yıldız’ Gesundheit sei sie deswegen nicht besorgt.

Anders ist die Lage der Hungerstreikenden, die seit über 60 Tagen die Nahrungsaufnahme verweigern. In der Stadt Siirt im Südosten der Türkei sind heute die ersten vier Streikenden in den Krankenhaustrakt des Gefängnisses verlegt worden. Sie waren zu schwach, um mit ihren Anwälten zu sprechen.
Fethi Bozçalı ist Vorstandsmitglied der türkischen Ärztekammer. Sie wollen eine Gruppe von Ärzten in die Gefängnisse schicken, um die Gefangenen zu betreuen. Seit einem Monat versuchen sie schon, die Erlaubnis dafür zu bekommen. Bisher ohne Erfolg. „Man schickt uns vom Justizministerium zum Oberstaatsanwalt zum Gefängnis und wieder zurück “, so Bozçalı. “Wir sprechen uns für das Recht auf Leben aus, wir wollen wegen des Hungerstreiks keine Menschen sterben sehen. Was wir wollen sind Lösungen, keine Toten.”
144 Hungerstreiktote habe es in der Türkei seit den 1980ern gegeben. Er selbst war bei den Streiks 1996 und 2000 als Arzt bei den Hungernden. Ihm zufolge ist es schwer, die mögliche Höchstdauer eines solchen Protests in Tagen zu fassen. „Ich habe schon Menschen nach dem 50. Tag sterben sehen. Vielmehr wird die Situation kritisch, wenn die Streikenden 15% ihres ursprünglichen Körpergewichts verloren haben.“
Ob die Ärzte in die Gefängnisse dürfen, ist immer noch unklar. Bozçalı ist besorgt. „Ich habe Menschen in meinen Händen sterben sehen. Aber dieses Mal ist es anders. Dieses Mal lassen sie niemanden hinein.“