Ihr Lieben,
aus organisatorischen und ehrgeizigen (wenn auch unbegründeten) Gründen, bekommt ihr diesen Text erst jetzt hier zu lesen. Geschrieben habe ich ihn schon vor zwei Wochen. Aber ich wollte erst versuchen, ob ich ihn irgendwo unterbekomme. War nicht so.
Wie manche von euch wissen, war ich vom 9. bis zum 12. September in Istanbul. Ein echter Kurztrip. Der Grund war der Prozess, von dem ich euch hier berichten will. Ich hatte das große Glück, mich einer deutschen Delegation bestehend aus Vertretern der DJU in ver.di, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Parte Die Linke. und mehreren Journalisten als Prozessbeobachter anschließen zu dürfen. Nicht nur der Prozess selbst war sehr... aufschlussreich. Wir haben außerdem viele interessante Menschen und Organisationen getroffen, die mit uns über das Thema Pressefreiheit in der Türkei gesprochen haben. Was dabei herauskam, könnt ihr hier lesen:
Im
Machtkampf um die Meinungsfreiheit: Massenprozess gegen Journalisten in der
Türkei
Ihnen
drohen bis zu 22 Jahre Haft, weil sie ihre Arbeit getan haben: Artikel
geschrieben, recherchiert, Bericht erstattet. Am Montag, den 10. September 2012, standen in der türkischen
Stadt Istanbul 44 Journalisten vor Gericht, die meisten von ihnen Kurden. 36
von ihnen sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen,
Mitglieder der terroristischen Organisation KCK zu sein. Die KCK – Union der
Gemeinschaften Kurdistans – gilt als der zivile Arm der PKK. Seit 2009 laufen gegen
sie Verfahren in der Türkei, im November 2011 kam es zu einer großen
Verhaftungswelle. Insgesamt sind in der Türkei 97 Journalisten in Haft.
Es
ist schlecht bestellt um die Pressefreiheit in dem Land, das viele Deutsche vor
allem mit weißen Sandstränden in Antalya oder buntem Großstadtleben in Istanbul
in Verbindung bringen. Laut einer Statistik über Pressefreiheit von Reporter
Ohne Grenzen befindet sich die Türkei im Jahr 2011 auf Platz 148 von 179.
Der
Prozess gegen die Journalisten ist nur eines der KCK-Verfahren in der Türkei.
Die Zahlen sind erschreckend. Laut dem türkischen Justizministerium sitzen
insgesamt etwa 1000 Menschen in Untersuchungshaft. Kurdischen Aktivisten
zufolge sind es um die 8000. Viele von ihnen sind Intellektuelle, Journalisten,
Akademiker, Politiker.
Ein
Prozess, der in den Medien einen Skandal auslösen muss. Sollte man meinen. Doch
die türkischen Medien berichten kaum darüber. Zu stark wirkt der Druck, den
Regierung und Verleger auf die Journalisten ausüben. Oftmals handelt es sich um
Selbstzensur. Die Verleger sind zugleich Unternehmer und von ihren
wirtschaftlichen Beziehungen zur AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan abhängig.
Und so kann für die Journalisten jeder geschriebene Satz, der die Regierung
kritisiert, die Kündigung mit sich bringen. Wenn es denn dabei bleibt: Eine
Journalistin im aktuellen KCK-Verfahren steht vor Gericht, weil sie über
sexuelle Übergriffe bei der türkischen Fluggesellschaft Turkish Airlines
berichtet hat. Der Vorwurf: Verunglimpfung des türkischen Staates.
Eine
Situation, die der Vorsitze der türkischen Journalistengewerkschaft TGS, Ercan
Ipekci, als empörend empfindet. „Diese Journalisten haben keine Waffe in die
Hand genommen, sie haben niemanden umgebracht. Sie haben nur ihre Arbeit
getan.“ Das Problem sind die Anti-Terror-Gesetze in der Türkei. Dort sind die
Begriffe „Terrorismus“ und „Terrorist“ so offen definiert, dass eigentlich
alles auf sie zugebogen werden kann. „Irgend etwas findet sich immer, um einen
Journalisten wegen Terrorismus anzuklagen“, so Ipekci.
Der
Menschenrechtler und Verleger Ragip Zarakolu erklärt, in keinem Land gäbe es so
viele „Terroristen“ wie in der Türkei. Tausende und Abertausende sähen sich
dieses Vorwürfen ausgesetzt. „Diese Situation ist für mich als
Menschenrechtsaktivisten nicht akzeptabel“. Zarakolu ist selbst des Terrorismus
angeklagt, ebenso sein Sohn Deniz.
Enttäuschte Hoffnungen im türkisch-kurdischen Konflikt
Ipekci
erklärt, die AKP habe ihre Ideologie zur Staatsmeinung erhoben. Sie habe die
ersten Jahre ihrer Amtszeit genutzt, um ihre Macht zu konsolidieren und
Bündnispartner zu finden. Dies war auch die Zeit, in der es schien, als gäbe es
Hoffnung im Konflikt mit der kurdischen Bevölkerung. Doch seit den Wahlen 2011
verschlechterte sich die Situation wieder rapide. Dann kamen die
Verhaftungswellen im November 2011 und die Prozesse gegen die pro-kurdische
Bewegung 2012. In den letzten Wochen eskaliert der bewaffnete Konflikt, beinahe
täglich kommt es zu Zusammenstößen mit zahlreichen Toten zwischen den Kämpfern
der PKK und dem türkischen Militär im Südosten des Landes.
„Es
gilt jetzt, für Presse- und Meinungsfreiheit gegen eine übermächtige Regierung zu
kämpfen“, erklärt Ipekci mit ernster Miene. „Unsere Journalisten zahlen dafür
einen hohen Preis. Sie werden verprügelt, verhaftet und umgebracht. Der
eigentliche Kampf ist es, dieses Thema in den Vordergrund zu rücken.“ Er
bezieht sich dabei nicht nur auf eine Diskussion in der türkischen Öffentlichkeit.
Ipekci sieht eine große Notwendigkeit darin, die internationale Öffentlichkeit
zu informieren.
Das Foyer des Justaizpalastes in Istanbul. |
Machtdemonstrationen vor Gericht
Der
Prozessauftakt selbst gleicht eher einem Machtspiel denn einem fairen Prozess. Schon
das Gerichtsgebäude ist eine Demonstration der Macht. Stockwerk über Stockwerk
erheben sich Galerien, die eine enorme Eingangshalle umschließen. Nach mehreren
Sicherheitskontrollen kann man endlich den von Uniformierten bewachten
Gerichtssaal betreten. Dieser wiederum hat von der Größe her eher Ähnlichkeit
mit einem Klassenzimmer als einem Saal, der Platz bieten soll für 44
Angeklagte, ihre Anwälte und Zuschauer.
So
kommt es, dass tatsächlich nicht genügend Stühle für die über 50 Anwälte
vorhanden sind. Als diese sich weigern, der Aufforderung des Richters
nachzukommen und sich in den Zuschauerraum zu setzen, wird die Verhandlung
kurzerhand für zwei Stunden unterbrochen und der Saal geräumt. Während die
Angeklagten aus dem Saal geführt werden, rufen sie und winken ihren Freunden
und Verwandten im Publikum zu.
Als
der Prozess letztlich startet, kommt sofort eines der heikelsten Themen auf den
Tisch. Bei der Kontrolle der Anwesenheit antworten die Angeklagten mit „Ez li
virim“, „Ich bin hier“ auf Kurdisch. Die kurdische Kultur wird in der Türkei
stark unterdrückt, Kurdisch als Sprache ist vor Gericht nicht zugelassen. Meist
wird in einer solchen Situation protokolliert, der Angeklagte habe in einer
„unbekannten Sprache“ geantwortet. Erstaunlicherweise protestiert der Richter in
diesem Fall nicht. Er akzeptiert die kurdischen Antworten aber auch nicht. Am
Ende des Vorgangs erklärt er bloß, das Gericht habe gesehen, dass alle
Angeklagten anwesend sind.
Anschließend
bringen die Anwälte ihre Anträge vor. Sie kritisieren die türkischen Sondergerichte,
welche die Terrorismus-Verfahren seit dem Jahr 2005 leiten, in ihren Augen aber
weder unabhängig noch objektiv sind. Zudem zeigen sie sich empört über die
Umstände des Verfahrens. Der kleine Raum ist ihrer Meinung nach ein Mittel, Zuschauer
vom Prozess fernzuhalten und somit eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu
erschweren. Unter diesen Umständen sei ein gerechtes Verfahren nicht möglich. Weiterhin
fordern die Angeklagten das Recht ein, sich in ihrer Muttersprache verteidigen
zu dürfen.
Auch
am zweiten Prozesstag geht es noch um juristische Verfahrensfragen. Die Anwälte
erklären, viele der Beweise in der 800-seitigen Anklageschrift seien haltlos
und durch polizeiliche Maßnahmen zustande gekommen, die gegen geltendes
türkisches Recht verstoßen. Es seien Privatgespräche abgehört und illegale
Hausdurchsuchungen durchgeführt worden. Bei diesen seien nicht einmal Waffen
oder anderes belastendes Material gefunden worden. Das einzige, was die Polizei
habe mitnehmen können, waren Texte, Fotos und Videos. Dinge, die man in der
Wohnung eines Journalisten erwartet.
Ein
Großteil der belastenden Zeugenaussagen beruht auf so genannten „geheimen
Zeugen“. Sie treten nicht im Gerichtssaal auf und können somit auch nicht zu
ihren Aussagen befragt werden. „Diese Aussagen lesen sich wie ein Fantasy-Roman“,
so einer der Anwälte. „Sie sind außerdem alle in einer bürokratischen
Polizeisprache gehalten.“ Dies bezieht er sowohl auf die Aussagen als auch auf
das, was ihnen zufolge die Journalisten angeblich gesagt haben. Die Anwälte
bezweifeln die Echtheit dieser Zeugen. „Vor kurzem musste die Polizei in einem
anderen Verfahren in der Stadt Van zugeben, dass sie Zeugen erfunden hat“,
erklärt der Anwalt Ramazan Demir. Für ihn ist ein solcher Massenprozess längst
nichts Ungewöhnliches mehr. „Es ist schlimm, dass etwas so Außergewöhnliches hier
zur Normalität wird.“
Die
Anwälte bezeichnen die Anklageschrift in ihrer Gesamtheit als nicht hinnehmbar:
„Wäre diese Anklageschrift die Arbeit eines Jura-Studenten im ersten Jahr, seine
Dozenten würden ihn durchfallen lassen.“ Der Menschenrechtsanwalt Ercan Kanar
erklärt, es handle sich hier um einen politischen Prozess, in dem es um die
Grenzen der Pressefreiheit und das Recht der Menschen auf Information gehe. Die
AKP greife gezielt die freie Presse in der Türkei an. Ein anderer Anwalt zeigt
sich überzeugt, dass die „Methoden des totalitären Staates auf ihn selbst
zurückfallen werden.“
Protest vor dem Gerichtsgebäude: "Lasst die geiseln frei" "Beginnt die Verhandlungen" |
Am Nachmittag des zweiten Prozesstages kommt es im Gerichtssaal zu einem Tumult. Die Anwälte werfen dem Gericht vor, sie respektlos und von oben herab zu behandeln. Die Stimmung wird immer angespannter, das Publikum beginnt aus Protest zu rufen und zu klatschen. Der Richter lässt abermals den Saal räumen und kündigt an, den Prozess am nächsten Tag unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortzusetzen. Zudem würden alle, die geklatscht hätten, mit Hilfe der Überwachungsbilder identifiziert und selbst rechtlich belangt werden.
Knebel als Zeichen des Protests
Laut
einem Bericht von Reporter ohne Grenzen verkündete das Gericht am Donnerstag,
dass keiner der Angeklagten aus der Untersuchungshaft entlassen werde. Alle 36
Inhaftierten müssen bis zur Prozessfortsetzung in etwa zwei Monaten im
Gefängnis bleiben. Außerdem werde der Prozess etwa 100 Kilometer von Istanbul
entfernt vorgesetzt. Die Anwälte sehen hierin eine weitere Maßnahme, um die
öffentliche Kontrolle der Prozesse zu behindern. Die Anträge der Anwaltschaft
hat das Gericht sämtlich abgelehnt. Es wird nicht nur keine Entlassungen geben,
sondern ebenso keine Diskussion über die Zulässigkeit der Anklagepunkte und
kein Recht auf Verteidigung in der Muttersprache Kurdisch. Nach der Verkündung
dieses Beschlusses klebten sich die Angeklagten aus Protest schwarze Streifen auf
den Mund und drehten sich mit dem Rücken zum Gericht. Sie werden in den
kommenden Verhandlungen wohl schweigen. Das Wort haben ihre Anwälte.
Donnerstag,
27.09.2012; Nachtrag:
Das Gericht hat beschlossen, doch noch zwei Angeklagte aus der Untersuchungshaft zu entlassen: Çağdaş Ulus von der türkischen Tageszeitung Vatan und Cihat Ablay, der für die Fırat Vertriebsgesellschaft arbeitet.
Immerhin etwas?
Diese Woche im Zuge der
KCK-Ermittlungen noch einmal beinahe 40 Menschen verhaftet, darunter Politiker
der BDP, Journalisten und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation İnsan Hakları Derneği (İHD).
Und falls ihr mehr lesen wollt: Die Berichte von Joachim Legatis auf der Seite der DJU
Und falls ihr mehr lesen wollt: Die Berichte von Joachim Legatis auf der Seite der DJU
Die Protestierenden zeigen Bilder der Inhaftierten. |