Donnerstag, 27. September 2012

Knebel für die Pressefreiheit - die KCK-Verfahren in der Türkei

Ihr Lieben,
aus organisatorischen und ehrgeizigen (wenn auch unbegründeten) Gründen, bekommt ihr diesen Text erst jetzt hier zu lesen. Geschrieben habe ich ihn schon vor zwei Wochen. Aber ich wollte erst versuchen, ob ich ihn irgendwo unterbekomme. War nicht so.
Wie manche von euch wissen, war ich vom 9. bis zum 12. September in Istanbul. Ein echter  Kurztrip. Der Grund war der Prozess, von dem ich euch hier berichten will. Ich hatte das große Glück, mich einer deutschen Delegation bestehend aus Vertretern der DJU in ver.di, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Parte Die Linke. und mehreren Journalisten als Prozessbeobachter anschließen zu dürfen. Nicht nur der Prozess selbst war sehr... aufschlussreich. Wir haben außerdem viele interessante Menschen und Organisationen getroffen, die mit uns über das Thema Pressefreiheit in der Türkei gesprochen haben. Was dabei herauskam, könnt ihr hier lesen:


Im Machtkampf um die Meinungsfreiheit: Massenprozess gegen Journalisten in der Türkei

Ihnen drohen bis zu 22 Jahre Haft, weil sie ihre Arbeit getan haben: Artikel geschrieben, recherchiert, Bericht erstattet. Am Montag, den 10. September 2012, standen in der türkischen Stadt Istanbul 44 Journalisten vor Gericht, die meisten von ihnen Kurden. 36 von ihnen sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder der terroristischen Organisation KCK zu sein. Die KCK – Union der Gemeinschaften Kurdistans – gilt als der zivile Arm der PKK. Seit 2009 laufen gegen sie Verfahren in der Türkei, im November 2011 kam es zu einer großen Verhaftungswelle. Insgesamt sind in der Türkei 97 Journalisten in Haft.
Es ist schlecht bestellt um die Pressefreiheit in dem Land, das viele Deutsche vor allem mit weißen Sandstränden in Antalya oder buntem Großstadtleben in Istanbul in Verbindung bringen. Laut einer Statistik über Pressefreiheit von Reporter Ohne Grenzen befindet sich die Türkei im Jahr 2011 auf Platz 148 von 179.

Der Prozess gegen die Journalisten ist nur eines der KCK-Verfahren in der Türkei. Die Zahlen sind erschreckend. Laut dem türkischen Justizministerium sitzen insgesamt etwa 1000 Menschen in Untersuchungshaft. Kurdischen Aktivisten zufolge sind es um die 8000. Viele von ihnen sind Intellektuelle, Journalisten, Akademiker, Politiker.
Ein Prozess, der in den Medien einen Skandal auslösen muss. Sollte man meinen. Doch die türkischen Medien berichten kaum darüber. Zu stark wirkt der Druck, den Regierung und Verleger auf die Journalisten ausüben. Oftmals handelt es sich um Selbstzensur. Die Verleger sind zugleich Unternehmer und von ihren wirtschaftlichen Beziehungen zur AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan abhängig. Und so kann für die Journalisten jeder geschriebene Satz, der die Regierung kritisiert, die Kündigung mit sich bringen. Wenn es denn dabei bleibt: Eine Journalistin im aktuellen KCK-Verfahren steht vor Gericht, weil sie über sexuelle Übergriffe bei der türkischen Fluggesellschaft Turkish Airlines berichtet hat. Der Vorwurf: Verunglimpfung des türkischen Staates.

Eine Situation, die der Vorsitze der türkischen Journalistengewerkschaft TGS, Ercan Ipekci, als empörend empfindet. „Diese Journalisten haben keine Waffe in die Hand genommen, sie haben niemanden umgebracht. Sie haben nur ihre Arbeit getan.“ Das Problem sind die Anti-Terror-Gesetze in der Türkei. Dort sind die Begriffe „Terrorismus“ und „Terrorist“ so offen definiert, dass eigentlich alles auf sie zugebogen werden kann. „Irgend etwas findet sich immer, um einen Journalisten wegen Terrorismus anzuklagen“, so Ipekci.
Der Menschenrechtler und Verleger Ragip Zarakolu erklärt, in keinem Land gäbe es so viele „Terroristen“ wie in der Türkei. Tausende und Abertausende sähen sich dieses Vorwürfen ausgesetzt. „Diese Situation ist für mich als Menschenrechtsaktivisten nicht akzeptabel“. Zarakolu ist selbst des Terrorismus angeklagt, ebenso sein Sohn Deniz.

Enttäuschte Hoffnungen im türkisch-kurdischen Konflikt

Ipekci erklärt, die AKP habe ihre Ideologie zur Staatsmeinung erhoben. Sie habe die ersten Jahre ihrer Amtszeit genutzt, um ihre Macht zu konsolidieren und Bündnispartner zu finden. Dies war auch die Zeit, in der es schien, als gäbe es Hoffnung im Konflikt mit der kurdischen Bevölkerung. Doch seit den Wahlen 2011 verschlechterte sich die Situation wieder rapide. Dann kamen die Verhaftungswellen im November 2011 und die Prozesse gegen die pro-kurdische Bewegung 2012. In den letzten Wochen eskaliert der bewaffnete Konflikt, beinahe täglich kommt es zu Zusammenstößen mit zahlreichen Toten zwischen den Kämpfern der PKK und dem türkischen Militär im Südosten des Landes.
„Es gilt jetzt, für Presse- und Meinungsfreiheit gegen eine übermächtige Regierung zu kämpfen“, erklärt Ipekci mit ernster Miene. „Unsere Journalisten zahlen dafür einen hohen Preis. Sie werden verprügelt, verhaftet und umgebracht. Der eigentliche Kampf ist es, dieses Thema in den Vordergrund zu rücken.“ Er bezieht sich dabei nicht nur auf eine Diskussion in der türkischen Öffentlichkeit. Ipekci sieht eine große Notwendigkeit darin, die internationale Öffentlichkeit zu informieren. 

Das Foyer des Justaizpalastes in Istanbul.

Machtdemonstrationen vor Gericht

Der Prozessauftakt selbst gleicht eher einem Machtspiel denn einem fairen Prozess. Schon das Gerichtsgebäude ist eine Demonstration der Macht. Stockwerk über Stockwerk erheben sich Galerien, die eine enorme Eingangshalle umschließen. Nach mehreren Sicherheitskontrollen kann man endlich den von Uniformierten bewachten Gerichtssaal betreten. Dieser wiederum hat von der Größe her eher Ähnlichkeit mit einem Klassenzimmer als einem Saal, der Platz bieten soll für 44 Angeklagte, ihre Anwälte und Zuschauer.
So kommt es, dass tatsächlich nicht genügend Stühle für die über 50 Anwälte vorhanden sind. Als diese sich weigern, der Aufforderung des Richters nachzukommen und sich in den Zuschauerraum zu setzen, wird die Verhandlung kurzerhand für zwei Stunden unterbrochen und der Saal geräumt. Während die Angeklagten aus dem Saal geführt werden, rufen sie und winken ihren Freunden und Verwandten im Publikum zu.
Als der Prozess letztlich startet, kommt sofort eines der heikelsten Themen auf den Tisch. Bei der Kontrolle der Anwesenheit antworten die Angeklagten mit „Ez li virim“, „Ich bin hier“ auf Kurdisch. Die kurdische Kultur wird in der Türkei stark unterdrückt, Kurdisch als Sprache ist vor Gericht nicht zugelassen. Meist wird in einer solchen Situation protokolliert, der Angeklagte habe in einer „unbekannten Sprache“ geantwortet. Erstaunlicherweise protestiert der Richter in diesem Fall nicht. Er akzeptiert die kurdischen Antworten aber auch nicht. Am Ende des Vorgangs erklärt er bloß, das Gericht habe gesehen, dass alle Angeklagten anwesend sind.
Anschließend bringen die Anwälte ihre Anträge vor. Sie kritisieren die türkischen Sondergerichte, welche die Terrorismus-Verfahren seit dem Jahr 2005 leiten, in ihren Augen aber weder unabhängig noch objektiv sind. Zudem zeigen sie sich empört über die Umstände des Verfahrens. Der kleine Raum ist ihrer Meinung nach ein Mittel, Zuschauer vom Prozess fernzuhalten und somit eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu erschweren. Unter diesen Umständen sei ein gerechtes Verfahren nicht möglich. Weiterhin fordern die Angeklagten das Recht ein, sich in ihrer Muttersprache verteidigen zu dürfen.
Auch am zweiten Prozesstag geht es noch um juristische Verfahrensfragen. Die Anwälte erklären, viele der Beweise in der 800-seitigen Anklageschrift seien haltlos und durch polizeiliche Maßnahmen zustande gekommen, die gegen geltendes türkisches Recht verstoßen. Es seien Privatgespräche abgehört und illegale Hausdurchsuchungen durchgeführt worden. Bei diesen seien nicht einmal Waffen oder anderes belastendes Material gefunden worden. Das einzige, was die Polizei habe mitnehmen können, waren Texte, Fotos und Videos. Dinge, die man in der Wohnung eines Journalisten erwartet.
Ein Großteil der belastenden Zeugenaussagen beruht auf so genannten „geheimen Zeugen“. Sie treten nicht im Gerichtssaal auf und können somit auch nicht zu ihren Aussagen befragt werden. „Diese Aussagen lesen sich wie ein Fantasy-Roman“, so einer der Anwälte. „Sie sind außerdem alle in einer bürokratischen Polizeisprache gehalten.“ Dies bezieht er sowohl auf die Aussagen als auch auf das, was ihnen zufolge die Journalisten angeblich gesagt haben. Die Anwälte bezweifeln die Echtheit dieser Zeugen. „Vor kurzem musste die Polizei in einem anderen Verfahren in der Stadt Van zugeben, dass sie Zeugen erfunden hat“, erklärt der Anwalt Ramazan Demir. Für ihn ist ein solcher Massenprozess längst nichts Ungewöhnliches mehr. „Es ist schlimm, dass etwas so Außergewöhnliches hier zur Normalität wird.“
Die Anwälte bezeichnen die Anklageschrift in ihrer Gesamtheit als nicht hinnehmbar: „Wäre diese Anklageschrift die Arbeit eines Jura-Studenten im ersten Jahr, seine Dozenten würden ihn durchfallen lassen.“ Der Menschenrechtsanwalt Ercan Kanar erklärt, es handle sich hier um einen politischen Prozess, in dem es um die Grenzen der Pressefreiheit und das Recht der Menschen auf Information gehe. Die AKP greife gezielt die freie Presse in der Türkei an. Ein anderer Anwalt zeigt sich überzeugt, dass die „Methoden des totalitären Staates auf ihn selbst zurückfallen werden.“

Protest vor dem Gerichtsgebäude: "Lasst die geiseln frei"  "Beginnt die Verhandlungen"

Am Nachmittag des zweiten Prozesstages kommt es im Gerichtssaal zu einem Tumult. Die Anwälte werfen dem Gericht vor, sie respektlos und von oben herab zu behandeln. Die Stimmung wird immer angespannter, das Publikum beginnt aus Protest zu rufen und zu klatschen. Der Richter lässt abermals den Saal räumen und kündigt an, den Prozess am nächsten Tag unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortzusetzen. Zudem würden alle, die geklatscht hätten, mit Hilfe der Überwachungsbilder identifiziert und selbst rechtlich belangt werden.

Knebel als Zeichen des Protests

Laut einem Bericht von Reporter ohne Grenzen verkündete das Gericht am Donnerstag, dass keiner der Angeklagten aus der Untersuchungshaft entlassen werde. Alle 36 Inhaftierten müssen bis zur Prozessfortsetzung in etwa zwei Monaten im Gefängnis bleiben. Außerdem werde der Prozess etwa 100 Kilometer von Istanbul entfernt vorgesetzt. Die Anwälte sehen hierin eine weitere Maßnahme, um die öffentliche Kontrolle der Prozesse zu behindern. Die Anträge der Anwaltschaft hat das Gericht sämtlich abgelehnt. Es wird nicht nur keine Entlassungen geben, sondern ebenso keine Diskussion über die Zulässigkeit der Anklagepunkte und kein Recht auf Verteidigung in der Muttersprache Kurdisch. Nach der Verkündung dieses Beschlusses klebten sich die Angeklagten aus Protest schwarze Streifen auf den Mund und drehten sich mit dem Rücken zum Gericht. Sie werden in den kommenden Verhandlungen wohl schweigen. Das Wort haben ihre Anwälte.


Donnerstag, 27.09.2012; Nachtrag:

Das Gericht hat beschlossen, doch noch zwei Angeklagte aus der Untersuchungshaft zu entlassen: Çağdaş Ulus von der türkischen Tageszeitung Vatan und Cihat Ablay, der für die Fırat Vertriebsgesellschaft arbeitet.
Immerhin etwas?
Diese Woche im Zuge der KCK-Ermittlungen noch einmal beinahe 40 Menschen verhaftet, darunter Politiker der BDP, Journalisten und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation İnsan Hakları Derneği (İHD).

Und falls ihr mehr lesen wollt: Die Berichte von Joachim Legatis auf der Seite der DJU



Die Protestierenden zeigen Bilder der Inhaftierten.