Donnerstag, 12. Juni 2014

Her Yer Taksim - Prozessbeginn gegen Gezi-Aktivisten

Es ist noch nicht ganz 9 Uhr morgens, als Mücella Yapıcı, eine aeltere Dame in blauem Kleid und weisser Bluse, vor dem gigantischen Gerichtsgebaeude in İstanbul auftaucht. Die Umstehenden begrüssen sie freundlich, schütteln ihr aufmunternd die Hand, klopfen ihr auf die Schulter. Sie nickt ihnen zu, laechelt, und verschwindet dann mit ihren Begleitern im Gebaeude.

Yapıcı ist Vorsitzende der İstanbuler Architektenkammer und eine der fünf Hauptangeklagten im Prozess gegen die Mitglieder der Taksim Solidaritaet. Die Bürgerinitiative war an der Organisation der Proteste im İstanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr beteiligt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor. Werden sie verurteilt, drohen ihnen bis zu 13 Jahre Haft. Insgesamt stehen an diesem Tag 26 Personen vor Gericht. Ihnen allen werden Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten vorgeworfen.

Der Gerichtssaal ist überfüllt. Laengst nicht jeder, der zum Zuschauen gekommen ist, findet einen Sitzplatz. Dabei ist die Menge der Zuschauer mit 150 bis 200 Personen überschaubar. Mehr Unterstützer sind nicht gekommen. Es ist immerhin mitten in der Woche, ein Werktag. Absicht, da sind sich viele der Beobachter sicher. Dass trotzem nicht genug Platz im Saal ist, liegt schlicht an der Raumgrösse. Den halben Raum besetzen die Angeklagten und ihre Anwaelte, mehr als 100 Sitzplaetze gibt es im Zuschauerbereich nicht. Dabei findet der Prozess im grössten Gerichtsgebaeude Europas statt. Die Grösse dieses Baus, auf den Premierminister Erdoğan überaus stolz ist, ist jedoch mehr Schein als Sein - einen Grossteil des Gebaeudes nimmt die enorme Eingangshalle ein.

Wer es in den Saal geschafft hat, bekommt trotzdem nicht viel mit. Es fehlt an Mikrofonen, die Verlesung der Anklageschrift dringt so gut wie gar nicht bis zum Publikum vor. Dann steht Mücella Yapıcı auf und traegt mit lauter Stimme ihre Verteidigung vor. Taksim Solidaritaet sei keineswegs eine kriminelle Vereinigung, sondern eine Plattform, auf der zivilgesellschaftliche Gruppen zusammengekommen seien. "Auf der İstiklal-Strasse entlangzugehen oder den Gezi-Park zu betreten ist kein Verbrechen", sagt sie. "Aber die Polizei verbietet es uns." 

Yapıcı soll ausserdem die Arbeit der Polizei behindert haben. Ein Vorwurf, der sie schmunzeln laesst. "Ich bin zu alt dafür", sagt die 63-jaehrige. "Wenn die Polizei wirklich annimmt, dass ich das kann, dann tue ich das auch. Es ist zu schmeichelhaft." Dann wird Yapıcı wieder ernst. "Statt uns sollten sie lieber die Verantwortlichen für die Polizeigewalt anklagen." Im Saal bricht Applaus aus.

Yapıcı und ihre Mitangeklagten sehen sich nicht nur als Einzelpersonen, die vor Gericht stehen. "Wir verteidigen nicht nur uns selbst, sondern die ganze Gezi-Park-Bewegung", sagt Ali Cerkesoğlu von der İstanbuler Aerztekammer. Auch er ist einer der fünf Hauptangeklagten, ebenso wie Haluk Ağabeyoğlu. Ihnen drohen ebenfalls hohe Haftstrafen. Doch das spielt für Ağabeyoğlu keine Rolle. "Es geht nicht um unsere individuelle Zukunft", erklaert er. "Wir leben in einer Gesellschaft. Und um die geht es, nicht um uns." 

Für Ağabeyoğlu ist dieser Prozess ganz klar kein juristischer, sondern ein politischer. Dass das Verfahren überhaupt eröffnet wurde, zeigt in seinen Augen die Angst des Staates vor zivilem Widerstand. Deswegen sei die Verhandlung an diesem Tag kein "Prozess in diesem Sinne", und auch über den Ausgang könne man noch nicht viel sagen. Bis zum Urteilsspruch kann noch viel Zeit vergehen, und Ağabeyoğlus Meinung nach ist der Ausgang ungewiss. "Das Recht wird heute vom Ministerpraesidenten gesteuert, und der verhaelt sich inzwischen wie ein Diktator", sagt er. 

Montag, 14. Oktober 2013

Liebe deinen Nächsten...



Unglaublich. Unglaublich! So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt und hoffe, dass ich es auch nie wieder erlebe. Es geht um meine Georgienreise von letzter Woche. Genau genommen um die Rückreise am Samstag, denn die Reise selbst war sehr schön. Die Gruppe war nett und das Wetter phantastisch; was kann man sich als Reiseleiterin mehr wünschen. Dann aber der letzte Tag... Geplant war, dass wir mit Ukraine International Airlines um 06:35 Uhr Georgischer Zeit (MESZ+2) in Tbilisi losfliegen und dann um 08:05 Uhr Ukrainischer Zeit (OESZ) in Kiew landen. Wir waren zu zwölft und hatten Anschlussflüge mit UIA nach Berlin (10:30 Uhr), Brüssel (10:15 Uhr), Frankfurt (11:10 Uhr) und München (irgendwann).

Am Flughafen in Tbilisi verlief alles reibungslos. Ziemlich müde, da wir um 03.45 Georgischer Zeit aufstehen mussten, taperten wir über den Flughafen. Wir checkten ein, passierten die Passkontrolle und den Security-Check. Da war es allerdings sehr voll und die Kontrollen waren sehr genau – im Schnitt jeder Zweite musste die Schuhe ausziehen, oft schon vor dem ersten Passieren des Metalldetektors. Ein junger, russischsprachiger Mann sorgte für etwas Wirbel, da er sich partout nicht von den drei Bierflaschen, zwei Plastikflaschen voll Wein und der Schnapsflasche in seinem Handgepäck trennen wollte. Doch dann war es geschafft. Die Maschine startete beinahe pünktlich. Ein Ukraine International Airlines Flug wie jeder andere. Nach  Kiew fliegen, dort ein paar Stunden im Transfer rumsitzen und sich langweilen, dann weiterfliegen. So war der Plan. 

In der Realität lag Kiew jedoch tief in Nebelschwaden versunken. So tief, dass wir nicht landen konnten. Unser Flug wurde zunächst nach Odessa geschickt. Anscheinend war nicht genug Treibstoff im Tank, um weiter zu kreisen. In Odessa landeten wir (nicht gerade sanft), das Flugzeug blieb auf dem Rollfeld stehen und wir warteten. Sobald sich der Nebel verzogen hatte, sollten wir zurück nach Kiew fliegen Aussteigen durfte niemand. Niemand vom Personal konnte (oder wollte) uns sagen, wie die Lage in Kiew sei und ob überhaupt eine Chance bestand, unsere Anschlussflüge noch zu erwischen.

Dann bekamen wir Anweisung, uns auf unsere Plätze zu setzen und die Gurte geöffnet zu lassen. Das Flugzeug wurde betankt, mit allen Passagieren an Bord. Meines Wissens nach müssen Passagiere während des Tankens eigentlich aus Sicherheitsgründen das Flugzeug verlassen. Nicht so bei UIA. Und wieder bestach das Personal durch beeindruckende Unfreundlichkeit. Eine Dame, die sich dem Steward mit den Worten „I need to get my connection flight“ näherte, wurde barsch mit den Worten „Not now. Now you need to sit.“ abgewiesen.

Irgendwann kam die Durchsage, dass wir nun nur noch auf das fehlende Personal, die richtigen Dokumente und die Starterlaubnis aus Odessa sowie die Bestätigung der verbesserten Wetterlage aus Kiew warten müssten und dann in vielleicht schon 15 Minuten weiterfliegen könnten. Da fuhr eine junge Dame von ihrem Sitz hoch, riss ihren Rollkoffer aus dem Handgepäck und stürmte nach vorne. Wir saßen noch 45 Minuten im Flugzeug herum, bevor wir abhoben. Später erfuhr ich, dass die junge Frau ohnehin von Kiew nach Odessa wollte und nun darauf bestand, auszusteigen. Das UIA-Personal wollte ihr das – verständlicherweise – nicht gestatten. Die junge Dame ließ aber nicht locker und diskutierte und bestand darauf, auszusteigen, so lange, bis extra für sein ein Einreiseverfahren eingeleitet wurde. Es kamen also wohl Einreisebeamte zur Passkontrolle, Papiere wurden ausgefüllt, eine Gangway wurde nur für diese Frau aufs Rollfeld gebracht, sie stieg aus, die Gangway wurde wieder weggebracht. Das Ganze dauerte etwa eine halbe Stunde.

Endlich hoben wir um etwa 11.30 Uhr ab und flogen nach Kiew, wo wir um etwa 12.15 Uhr ankamen. In der ganzen Zeit hatte das Personal von UIA noch einmal Wasser an die Reisegäste verteilt, mehr Entgegenkommen gab es nicht. Mehr Wasser gab es nur auf Nachfrage. So lief letztendlich ich mit einer Flasche Wasser und einigen Pappbechern zwischen den EOL-Reisenden umher und verteilte Wasser. Als wir wieder starteten, gab es keinerlei Erklärungen über die Lage in Kiew, über noch erreichbare oder verpasste Anschlussflüge und darüber, an wen man sich am Kiewer Flughafen wenden solle. Statt dessen wurde uns noch einmal erklärt, wie man eine Rettungsweste anlegt. Beim Aussteigen wurden wir dann mit einem „We hope you had a pleasant journey“ verabschiedet.
In Kiew wandte sich unsere 12köpfige Reisegruppe zunächst an den Transfer Information Desk, wo schon viele andere Fluggäste anstanden. Auf der Anzeigetafel sahen wir, dass bis auf den Flug nach Brüssel keiner unserer Flüge mehr angezeigt wurde. Der Brüssel-Flug hatte allerdings bereits mit dem Boarding begonnen. Die Brüssel-Reisende rannte los. Da wir nichts mehr von ihr gehört haben, gehe ich davon aus, dass sie es geschafft hat. (Ich bezweifle allerdings, dass ihr Gepäck mit ihr geflogen ist.) Wir anderen wurden angewiesen, durch die Passkontrolle zu gehen und uns im dritten Stock an den Schalter von UIA zu wenden. Diesen zu finden war nicht schwer: Vor dem Schalter drängten sich etwa 200 Menschen, die das selbe Anliegen hatten wie wir: Neue Flugtickets.

Da es keinen Sinn machte, sich mit 11 Personen anzustellen, wartete die Gruppe mit den Rucksäcken weiter hinten und ich stellte mich an. Allerdings kann man eigentlich nicht von anstellen sprechen, da es keine Schlangen gab. Die 200 Menschen drängten und schubsten und schoben sich in totalem Chaos vor den Fenstern des Schalters, hinter dem drei Frauen saßen und verzweifelt versuchten, dem Ansturm Herr zu werden. Es waren Passagiere aus unserer Maschine und aus mindestens zwei anderen, ebenfalls verspäteten Maschine (eine muss aus Simferopol gekommen sein.) Weder diese Frauen noch irgend jemand anderes vom UIA- oder Flughafenpersonal sah sich genötigt, etwas Ordnung in dieses Gedränge zu bringen. Obwohl wir mit 3,5 Stunden Verspätung am Flughafen ankamen, war scheinbar niemand auf diesen Ansturm gefasst oder gar vorbereitet gewesen. Die Lage war nicht nur chaotisch, sondern durchaus gefährlich. Die Menschen schubsten sich hin und her und das Aggressionspotential war riesig, immer weiter steigend. Mehrmals war ich sicher, dass gleich eine Prügelei ausbrechen würde. Jeder versuchte, so schnell wie möglich so weit nach vorne wie möglich zu kommen.

Plötzlich brach dicht vor mir ein Mann zusammen und lag zuckend und Blut spuckend auf dem Boden. Ich war wie hypnotisiert. Ohne wirklich zu denken drehte ich mich um und ging mit meiner Gruppe. Ich zupfte einen meiner Reisegäste, der Arzt ist, am Ärmel und sagte monoton: „Komm mal mit. Da vorne ist gerade jemand zusammengebrochen...“ Erst, als wir wieder bei dem Mann ankamen und der Arzt versuchte, den Mann wieder zum Atmen zu bringen, realisierte ich wirklich, was da gerade passierte. Eine junge Frau aus meiner Gruppe und ich versuchten, die Menschenmenge ein wenig von den am Boden liegenden Mann fernzuhalten. Drei Männer versuchten, dem Mann zu helfen. Es schien sich um einen epileptischen Anfall zu handeln.

Einige Menschen standen da und gafften, doch die meisten versuchten weiter, vorne zum Schalter zu kommen. Dabei kletterten sie auch über den am Boden liegenden Mann. Es dauerte 15-20 Minuten, bis endlich ein Sanitäter kam, und dann noch einmal 15-20 Minuten, bis endlich ein Rollstuhl gebracht wurde, um ihn wegzubringen. Bis dahin blieb der Mann mit dem Gesicht zum Boden mitten in der Menge liegen. Noch immer griffen weder UIA-Personal noch die Security ein, um die Menge zu beruhigen und zu ordnen. Es war unbeschreiblich, als ob es um Leben und Tod ginge. Wäre ich allein an diesem Flughafen gewesen, niemals hätte ich mich dem ausgesetzt. Ich hätte mich an den Rand gesetzt und gewartet, bis sich die Lage beruhigt, und dann hätte ich den nächsten Flug nach Hause genommen. Egal, ob Samstag, Sonntag, oder wann auch immer. Aber ich war nicht allein, und ich musste mich um zehn Reisegäste kümmern. Also stand ich inmitten dieser Horde durchdrehender Menschen.

Immer wieder überkam mich Sorge, dass es irgendwann zu einer Massenhysterie kommen und jemand niedergetrampelt werden würde. Selbst Menschen, die endlich ihr Ticket hatten, konnten kaum aus der Menge heraus. Niemand wollte Platz machen, da man dadurch ja seinen Platz verlieren würde, so sehr wurde gedrängelt.  Als ich endlich mit den Pässen aller Mitglieder meiner Gruppe am Schalter ankam, wurde ich unter lauten Protesten einiger Umstehender, die mir vorwarfen, ich hätte gedrängelt, angegangen. Plötzlich griff mich jemand am Hosenbund und fing an, mich nach hinten zu ziehen. Unfassbar! Man konnte garnicht drängeln, es war unmöglich, die eigene Richtung zu bestimmen. Wurde von rechts geschoben, musste man eben nach links ausweichen. Es gab keine Schlange, in der man sich hätte vordrängeln können. Irgendwann gelang es mir doch, meine Pässe nach und nach der UIA-Angestellten zu reichen und neue Tickets zu verlangen. Es gab keinen Flug mehr nach Berlin, also verlangten wir Tickets nach München. Der Flug sollte um 17.15 (OESZ) gehen und um 18.45 (MESZ) landen.

Um den Anschluss von München nach Frankfurt bzw. Berlin wollten wir uns in München kümmern. Der Andrang dort war zu groß und die UIA-Mitarbeiterinnen waren deutlich überfordert. Hätte ich noch angefangen, unterschiedliche Anschlussflüge für unterschiedliche Personen zu fordern – ich bin sicher, die Menschen hätten mich mit irgendwo herbeigeschafften Knüppeln niedergeschlagen. Diese Tickets zu bekommen war schon schwierig genug. Auch unsere alten Boardkarten bekamen wir nur auf nachdrücklichen Wunsch wieder ausgehändigt. Irgendeine Art Bescheinigung der UIA über die Verspätung und unsere Ansprüche bekamen wir nicht, und es war auch unmöglich, danach zu verlangen. Die Frauen am Schalter standen bereits kurz vor dem Nervenzusammenbruch (in etwa so wie ich) und die Massen wurden nicht ruhiger.

Es war ungefähr 15.15 Uhr, als ich mir einen Weg aus der Menge heraus erkämpfte. Wir waren zu Schalter 1 geschickt worden, um nach unserem Gepäck zu fragen. An Schalter 1 schickte man uns zu Schalter 10. An Schalter 10 schickte man uns zum Sperrgepäck, wo unsere Koffer „irgendwann“ ankommen sollten. Dort stand ein Mann, der offensichtlich keine Ahnung von nichts hatte, sowie weitere Angestellte, die allerdings für Gepäckannahme und nicht für Gepäckausgabe zuständig waren und somit gar nicht auf die Idee kamen, sich einzumischen. Das einzige, was der junge Mann uns sagen konnte, war, dass die Koffer irgendwann kommen würden. Vielleicht in 10 Minuten, vielleicht auch in 30 oder in einer Stunde. Nach und nach wurden irgendwelche Koffer aus mehreren verschiedenen Flugzeugen gebracht und auf einen großen Haufen geschmissen. Wir hatten es allerdings sehr eilig, da wir ja auch noch bei der Lufthansa für unseren Flug nach München einchecken mussten. Und ohne unsere Koffer nach München zu fliegen war nicht möglich, da wir ja nicht in München bleiben würden. Und von Berlin wieder nach München zu fahren, um meinen Koffer abzuholen, ist wirklich zu viel verlangt. Außerdem konnte uns niemand garantieren, dass unsere Koffer auch wirklich nachgeschickt würden.

Immer wieder baten wir das Personal auf Englisch und Russisch, doch bitte die Namen der Kofferbesitzer oder die Nummer der Gepäck-ID-Zettel vorzulesen. Dieser Vorschlag wurde rigoros ignoriert. Stattdessen brüllten sie die sich drängelnden Passagiere an, gefälligst Abstand zu halten. Selbst, als einige meiner Reisegäste ihnen erklärten, sie könnten ihren Koffer hinter der Absperrung bereits sehen, hörten sie nicht zu und brüllten nur weiter ihre Aufforderungen. Auch hier drohte die Situation immer weiter zu eskalieren.

Ich selbst lief die ganze Zeit zwischen UIA- und Lufthansa-Schalter hin und her. Bei der Lufthansa fragte ich nach, ob wir Gepäck auch nach dem Einchecken noch aufgeben könnten und bis wann der Check-In liefe, bei der UIA versuchte ich, jemanden zu finden, mit dem ich in Ruhe sprechen könnte. Ich fand heraus, dass wir nur noch knapp eine halbe Stunde zum einchecken hatten und schickte meine Reisegruppe nach und nach zum Schalter, damit einige nach den Koffern suchen konnten, während alle nach und nach eincheckten. Bei der UIA fand ich eine junge Dame, die mir zuhörte, dann ihren Check-in-Schalter tatsächlich schloss und mich zum Gepäck begleitete, mir aber auch nicht helfen konnte. Unsere Koffer tröpfelten langsam ein. Nach und nach fanden Mitglieder meiner Gruppe ihre Koffer und kämpften mit dem Personal um die Freigabe.

Schließlich fehlten noch 5 Koffer (von 11) und wir hatten nur noch 5 Minuten zum Einchecken. Die Menschen wurden immer aufgeregter und lauter, Passagiere und Flughafenpersonal brüllten sich an, Menschen brachen in Tränen aus. Ich entdeckte eine Frau hinter der Absperrung und erklärte ihr unsere Situation. Dann drückte ich ihr unsere Gepäck-ID-Zettel in die Hand und sie lief tatsächlich nach hinten, um unsere Koffer zu  suchen. Endlich begannen auch die Angestellten, die Namen auf den Gepäck-ID-Zetteln vorzulesen, wenn sie einen neuen Koffer brachten. Gerade noch rechtzeitig bekamen wir die letzten Koffer. Beim Einchecken von gab es jedoch ein neues Problem: In meiner Gruppe gab es Mutter und Tochter, und die Frau am Ticketschalter hatte es irgendwie fertig gebracht, beide neuen Tickets auf den Namen der Mutter auszustellen. Die Lufthansa-Mitarbeiterin konnte das im System nicht ändern.

Nach mehreren Anrufen bei UIA und verzweifelten Versuchen sah es zunächst so aus, als könnte die Tochter ohne ein neues Ticket nicht mitfliegen. Dafür hätte sie sich noch einmal in diesem Tor zur Hölle anstellen müssen. Im letzten Moment gelang es der Lufthansa-Angestellten dann doch noch, das Ticket zu ändern. Wir passierten die Pass- und Sicherheitskontrolle und kamen genau rechtzeitig zum Boarding am Gate an. Pünktlich und reibungslos flogen wir nach München. Ich war selig. Quasi gleich doppelt im Himmel. Ich sprach den Steward an, da ich hoffte, er hätte einen guten Tipp für uns. Er hörte mir zu und wir taten im offensichtlich sehr Leid. Als er mir ganz freundlich antwortete, brach ich fast in Tränen aus. Der erste Mensch seit acht Stunden, der mich nicht anschrie! Dann bekamen wir etwas zu essen – keiner von uns hatte bisher etwas richtiges gegessen. Und dann bekam ich ein Bier. War das schön... ich liebe die Lufthansa!

In München trennte sich unsere Gruppe, da mehrere Reisegäste beschlossen, sofort mit Flugzeug oder Bahn weiterzufahren. Einige hatten wichtige Termine. So wie der Arzt, der am Montag mehrere Patienten zur Darmspiegelung bestellt hatte. Diese Vorstellung – ein Wochenende lang abführen und nichts essen, dann kommt man in die Praxis, und der Arzt ist nicht da... Wie dem auch sei.

Wir anderen gingen sofort zur Information und fragten nach dem UIA-Schalter. Einen solchen gibt es aber in München nicht, wir wurden an Aerogate verwiesen, welche die Flüge von UIA in München abwickeln. Am Schalter dort erklärten wir unsere Situation. Die dort arbeitende Dame fing an zu lachen. „Tut mir Leid, dass ich jetzt lache; ich kann das gar nicht glauben!“ Auch sie war vollkommen perplex. Allerdings erklärte sie, dass sie uns keine Tickets im Namen von UIA ausstellen könne. Es gebe noch einen Lufthansaflug gegen 22 Uhr. Dann begann sie, herumzutelefonieren. Sie rief letztendlich den Verantwortlichen von UIA in Deutschland, der von dem ganzen Chaos in Kiew noch gar nichts wusste, sogar zuhause an. Der wiederum müsse erst in Kiew anrufen und sich informieren, dann wieder sie anrufen, und dann könne man sehen, ob wir noch Plätze in diesem Flugzeug bekommen könnten.

Meine Reisegruppe hatte inzwischen telefoniert und herausgefunden, dass es um 22.13 Uhr einen Nachtzug von München nach Berlin gab, der für uns alle passend war. Drei von uns wollten nach Berlin, die anderen hätten bei einem Flug nach Berlin noch weiter gemusst, was spät abends ohnehin schwer war. Ihr Ziel lag jedoch auf der Strecke des Zugs. Außerdem wollten wir vermeiden, dass irgendwann die Antwort von UIA kommt, dann aber das Flugzeug voll ist. Bis dahin wäre es auch zu spät für den Zug gewesen, denn es war schon 20.00 Uhr (MESZ) und vom Flughafen zum Bahnhof braucht man eine Stunde. Wir beschlossen also, Tickets für den Zug zu kaufen, damit wir nicht am Ende in München festsitzen. Als wir am Bahnschalter standen und klar war, dass es noch freie Plätze gab, konnte ich nicht mehr. Plötzlich kullerten die Tränen. Wie schon den ganzen Tag reagierte meine Gruppe ganz wunderbar. Sofort nahm mich jemand in den Arm, und dann bekam ich ein Stückchen Schokolade für die Nerven.

Um je 150€ ärmer fuhren wir dann zum Bahnhof, nahmen den Zug, setzten uns in unsere Komfort-Sessel (wirklich ganz bequem) und fuhren los. Um 08:04 Uhr am nächsten Morgen kamen wir in Berlin Hauptbahnhof an. Laut unserer Tickets hätten wir am Vortag um 11.40 Uhr in Berlin Tegel landen sollen. Das macht eine Verspätung von ca 20,5 Stunden. Ganz zu schweigen von dem Stress.

Aber ich muss sagen, am meisten schockiert haben mich die Menschen in diesem Getümmel. So selbstbezogen, so egoistisch, so aggressiv. Wir standen dicht an dicht, und ich konnte spüren, wie die Menschen um mich herum vor Zorn und Aufregung zitterten, wie schnell ihre Herzen schlugen, wie sie schwitzten. Zu viele dachten einzig und allein an sich und wollten sich durchsetzen, komme, was da wolle. Keine Spur von Rücksichtnahme. Und ich bin mir sicher, an (beinahe) jedem anderen Tag hätte man 90% dieser Menschen als nett und freundlich wahrgenommen. Aber in solchen Situationen kann man mal zeigen, was in einem steckt.

Schade.

Montag, 17. Juni 2013

Turkey, you are not alone! Her yer Taksim, her yer direniş!

Unfassbar.
Ich bin sprachlos. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
Seit zwei Wochen sitze ich Stunde um Stunde vor meinem Computer, voller innerer Unruhe, auf dem Stuhl wippend, und verfolge die Nachrichten aus der Türkei. Mit jedem Tag wächst meine Wut auf Erdogan und seine Regierung,  jedem Tag frage ich mich, was in diesem Mann eigentlich vorgeht. Und mal um mal komme ich zu dem Schluss: ein Verrückter!

Was geht vor in einem Menschen, der sein eigenes Volk von der Polizei niederknüppeln lässt? Der friedliche Protestierende mit Wasserwerfern und Tränengasgeschossen angreift? Junge Menschen, die für ihre Rechte eintreten? Frauen? Kinder? 

Dieser Mann ist vollkommen größenwahnsinnig. Und das ist nichts Neues. Schon letztes Jahr, während ich in Istanbul gelebt habe, konnte ich über ihn und seine Politik nur den Kopf schütteln. Immer weiter und weiter steigende Alkoholsteuern, Einschränkungen des Barbetriebs auf Gehwegen, Abtreibungsgesetze, die Abtreibungen fast unmöglich machen. Terroristengesetze, die derartig weit formuliert sind, dass regierungskritische Journalisten und Juristen als Terroristen im Gefängnis sitzen, Hunderte, seit vielen Monaten in Untersuchungshaft - und bei einer Verurteilung noch für viele Jahre. All das ereignete sich in Istanbul, über all das wurde um mich herum gesprochen. Es hat gebrodelt. Aber eben nur in bestimmten Kreisen. Mir war immer klar, dass ich mich in einem Umfeld bewegt habe, das nicht der Mehrheit der Türkei entspricht. Ich war (bin) mit jungen Türken und Türkinnen befreundet, die sich für Politik interessieren, die Erdogan und die AKP nicht unterstützen, die ihre Freiheiten und ihre Selbstbestimmung fordern. Aber dennoch war klar: Da ist Ärger, der sich anstaut. Ich kann nur noch einmal wiederholen, was Sinan zu mir gesagt hat: "Es war genug!"

Auch was die Istanbuler Polizei angeht, hatte ich immer ein ungutes Gefühl. Wann immer ich auf der Istiklal Straße, die zum Taksim Platz führt, an uniformierten und bis an die Zähne bewaffneten Polizisten vorbeigelaufen bin (und das war oft, denn dort sind sie fast immer präsent und so ausgestattet sind sie auch fast immer), überkam mich ein Schauder. Ich wollte schnell an ihnen vorbei. Nur nicht hingucken, nur nicht auffallen. Auf mich wirkten sie, als warteten sie nur auf einen Fehler, auf eine auffällige Bewegung, auf irgend einen Grund zum Handeln. Jedes mal wieder überkam mich der Gedanke: "Die sehen nicht aus, als seien sie hier, um die Bevölkerung vor was auch immer zu beschützen. Die sehen aus, als wären sie hier, um ihre Chefs vor der Bevölkerung zu 'beschützen'." Und wie oft habe ich von verschiedensten Seiten das Gemunkel vernommen, dass mindestens jeder zweite Kastanien- oder Simitverkäufer in den Straßen Istanbuls ein Polizist in zivil sei, dessen Aufgabe es ist, die Menschen zu beobachten. Zu überwachen. Denn die Menschen in Istanbul sind ja eine Gefahr.

Für wen? Für Erdogan? Den gewählten Vertreter der Menschen in der Türkei? Was können sie ihm denn tun? Ich meine, außer ihn nicht wieder zu wählen? (Was sie ohnehin nicht können, da er kein weiteres Mal kandidieren darf.) Dieses Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen, war jedenfalls präsent. Und dass dieses Gefühl nicht gerade eine angenehme Atmosphäre hervorbringt, kann sich sicherlich jeder vorstellen.

Erdogan aber will seine Macht nicht hergeben. Nein, er spielt sich auf wie der unangefochtene Alleinherrscher. Wie er auf der Bühne vor seinen Anhängern auftritt, sagt alles. Er schreitet auf der Bühne auf und ab, das Mikrofon in der Hand, und ruft seine Kampfsprüche. Er habe den Demonstranten die Hand hingestreckt, doch zurückbekommen habe er eine geballte Faust. Na klar, macht Sinn, da blieb ihm ja nichts anderes übrig, als in der Nacht zu Sonntag mit aller Gewalt und Brutalität gegen diese Terroristen vorzugehen. Denn Terroristen sind sie ja alle. Erdogan hat schließlich kurze Zeit vor dem Angriff alle Bürger aufgefordert, den Platz und den Park zu verlassen - wer später noch da war, konnte ja nur Extremist sein. Und ganz klar wurde betont: Wer sich auf das Gelände des Taksim Platzes begiebt, wird als Terrorist behandelt.
Doch zurück zu Erdogans Auftreten. Wie er da auf der Bühne auf und ab geht, wie er ins Mikrofon brüllt... Ich konnte nicht anders, als an einen der vielen Hollywoodfilme a la Herr der Ringe zu denken, in denen der König des stolzen Heeres noch einmal vor seinen Soldaten auf und ab reitet, mit dem Säbel rasselt und ihnen Kampfesgeist entgegenbrüllt, bevor er sie in die Schlacht gegen die feinliche Armee schickt.

Seit zwei Wochen kann ich die Nachrichten einfach nicht fassen. Am Dienstag war ich außer mir. Bilder über Bilder, Video, Berichte über willkürliche Polizeigewalt. Nicht nur Informationen, die durchs Netz geistern, sondern solche, die mich von Freunden erreichen. Von Menschen, die ich kenne und denen ich vertraue. Und um die ich mir Sorgen mache.
Am Anfang schwang in diesen Berichten große Euphorie mit. "Du solltest hier sein Dinah, du solltest das sehen. Diese Solidarität zwischen den Menschen, das ist unglaublich!" Freude, Euphorie. Und viel viel Entschlossenheit: "Wir werden hier bleiben, bis wir unser Ziel erreicht haben!" Dann der Dienstag. Die Berichte wurden erschöpfter. Von Massenpaniken ist die Rede, von Verfolgungsjagden, von der Angst, zu stolpern und von den Flüchtenden zertrampelt zu werden. Von in zivil gekleideten Menschen, die die Flüchtenden mit Holzknüppeln und Messern angreifen. Ich saß mit meiner Schwester vor einem Video Livestream vom Taksim Platz und konnte die Augen nicht abwenden. So mussten wir zusehen, wie die Polizei die Menschen mit Wasserwerfern gezielt  beschossen hat. Mir blieb die Luft weg, als ich sah, wie selbst  einen wehrlosen Mann - alleine, unbewaffnet und im Rollstuhl - zum Ziel des Wasserwerfers wurde.

Dann Beruhigung. Und dann die Nacht zu Sonntag.

Die Nachrichten, die jetzt bei mir ankommen, haben jede Begeisterung und jede Euphorie verloren. Jede Freude. Seit letzter Nacht ist alles anders. Die Polizei hat nicht nur unter Einsatz von Unmengen Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen den Park geräumt, in dem friedliche Menschen, unter ihnen Familien mit kleinen Kindern waren. Sie hat auch die Orte wie das Divan Hotel, in dem freiwillige Ärzte Verletzte versorgen, mit Tränengasgeschossen angegriffen. Sie hat die Ärzte verhaftet. Auch Rechtsanwälte werden seit Tagen verhaftet - laut der Istanbuler Anwaltskammer waren es heute Abend gegen halb 11 türkischer Zeit 290. Ein gängiges Mittel in der Türkei, mit dem Menschen der Rechtsschutz verwehrt wird - die Anwälte werden verhaftet. Ebenso die Anwälte der Anwälte, wie man am Beispiel des Prozesses gegen Öcalan sieht. 
Den ganzen Sonntag über häufen sich die Nachrichten von gewaltätigen Auseinandersetzungen in Istanbul und anderen türkischen Städten. Polizisten durchstreifen die Straßen, ständig gibt es neue Meldungen von Verhaftungen. Von prügelnden Polizisten. "Wir trauen uns nicht mehr auf die Straße, ohne unsere Blutgruppe auf den Arm zu schreiben", sagt einer meiner Freunde. Realität oder eine symbolische Aussage, ich weiß es nicht. Aber macht das eigentlich einen Unterschied?
"Wir sind denen wahrscheinlich einfach nicht viel wert. Wie Ungeziefer", sagt ein anderer Freund, als ich bestürzt frage, wie die Polizisten das, was sie da tun, eigentlich tun können. Ein dritter schickt mir den Link zu einem Video, in dem zu sehen ist, wie die Polizei einen Mann misshandelt und wegträgt. Dieser Mann ist ein Freund von mir. Und ein Journalist. Und einer von vielen, denen das Selbe passiert ist.

Ich weiß, ich sage hier nichts Neues. Und doch hatte ich das Gefühl, ich muss es sagen. Vielleicht für mich. Um meinen eigenen Gefühlen der Ohnmacht etwas entgegenzusetzen. Aber doch nicht nur für mich.
Ich sitze hier in Berlin hin und her gerissen zwischen dem Gefühl, ich müsste eigentlich in Istanbul sein und dem Gefühl der Erleichterung, nicht dort zu sein. Ich fühle, dass ich etwas beitragen will. Muss. Und weil ich nicht in Istanbul sein kann, muss ich eben das tun, was im Rahmen des mir Möglichen liegt: Laut werden.

Wir alle können den Menschen in Istanbul, in Ankara, in Adana und Antalya, in Hatay, und überall sonst in der Türkei zeigen, dass sie nicht allein sind. Dass wir sie sehen und hören und dass wir bei ihnen sind. Wir können ihre Bilder, ihre Videos und ihre Kommentare teilen. Wir können Demonstrieren. Wir können sichtbar und hörbar sein - um ihnen zu zeigen, dass wir bei ihnen sind, um Erdogan zu zeigen, dass wir bei ihnen sind, um der Welt zu zeigen, dass wir bei ihnen sind.

Was ihr hier lest ist ein Bruchteil von dem, was mir durch den Kopf geht. Aber mehr bin ich gerade nicht in der Lage zu formulieren. Mir fehlen die Worte. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Aber wie gesagt, ich glaube, es ist wichtig, Worte zu finden. Und sie zu teilen. Danke.

Montag, 10. Juni 2013

Türkei, Taksim und Tränengas: „Es geht nicht darum, ob sich etwas ändern wird. Es ist schon alles anders.“



--- pictures of Berlin çapuling below  ---



Die Nachrichten aus der Türkei nehmen kein Ende. Die Proteste dauern nun etwa zwei Wochen an. Nach wie vor sind im ganzen Land die Menschen auf den Straße und demonstrieren, nach wie vor kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei, bei denen diese mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgeht. Und nach wie vor spricht Premierminister Erdoğan von „Provokateuren“.

Eine Darstellung, über die die Protestierenden nur den Kopf schütteln können. „Wir sind keine Provokateure“, betont der 26-jährige Student Sinan. „Er ist derjenige, der provoziert.“ Für den jungen Mann steht eins fest: Das, was die Menschen auf die Straße gebracht hat, war der autoritäre Führungsstil Erdoğans. Sinan zufolge versuchte dieser, Einfluss auf alle Aspekte des Lebens der Menschen in der Türkei zu nehmen; seien es Einschränkungen für den Kauf von Alkohol, die Anzahl der Kinder, die eine Frau bekommen solle, ja sogar die Zusammensetzung von Brot – oder eben das Abholzen eines Parks im Zentrum Istanbuls und der Wiederaufbau von Militärkasernen als Einkaufszentrum. „Es war genug“, sagt Sinan erregt. „Selbst meine Eltern können sich nicht auf eine solche Art und Weise in mein Leben einmischen!“

Für ihn kamen die Proteste nicht überraschend. Er wusste, dass irgendwann etwas passieren würde – nur wann, das wusste er nicht. Sinan spricht von angestauter Wut, die sich jetzt und hier entladen hat. „Es geht hier nicht um einen Baum. Am Anfang, am 27. Mai, ja, da ging es um einen Baum. Aber am 28. Mai schon nicht mehr. Jetzt geht es um Demokratie.“

Sinan erklärt, dass die jetzige Bewegung keineswegs aus dem Nichts kommt. Bereits seit drei Jahren setzt sich die „Solidarity Taksim Bewegung“ mit den Umbauplänen für Istanbuls Innenstadt auseinander. Hier engagieren sich die Vertreter von Architekten- und Stadtplanungsverbänden, politische Parteien, Nichtregierungsorganisationen und viele andere Gruppierungen dafür, in Entscheidungen mit einbezogen zu werden. „Erdoğan ist kein Architekt. Er ist auch kein Arzt, kein Stadtplaner, kein Ernährungsexperte, kein Familienplaner – aber er möchte der einzige Entscheidungsträger sein.“ Für Sinan bedeutet das, dass der Premierminister sich in Bereiche einmischt, die ihn nichts angehen. „Es geht ihn nichts an, wie viele Kinder wir bekommen oder ob wir religiös sind – das ist unsere Sache, und es ist sehr persönlich“, erklärt er.

Erdoğan hat immer wieder betont, die Protestierenden seien ein paar Extremisten und „Marodeure“, wie deutsche Medien das türkische Word „çapulcu“ oft übersetzt haben. Sinan sieht das anders: „Wer da protestiert? Das ist die Jugend der Türkei!“ Er nimmt Bezug auf eine Studie der Istanbul Bilgi University, die zwischen dem 03. und 04. Juni durchgeführt wurde. Dieser Befragung zufolge sind über 60% der Menschen auf dem Taksim-Platz zwischen 19 und 30 Jahren alt. Mehr als die Hälfte von ihnen gab an, sich vorher niemals an einer Demonstration beteiligt zu haben und ebenfalls über 50% bezeichnen sich selbst als nicht politisch. „Was sie auf die Straße gebracht hat, ist ein autokratischer und patriarchaler Premierminister, der versucht, sich als jedermanns Vater aufzuspielen“, erklärt Sinan. Die Bezeichnung „çapulcu“ – eigentlich negativ konnotiert – hat die Protestbewegung nun als Selbstbezeichnung übernommen. Nicht nur auf den Demonstrationen in der Türkei, auch auf den Solidaritäts-Kundgebungen etwa in Berlin sieht man Menschen, die sich das Wort groß auf die Brust oder auf den Rücken geschrieben haben. Und in sozialen Medien wie facebook haben viele junge Menschen das Wort als Vorsatz mit ihrem Benutzernamen verknüpft. „Es beschreibt uns ganz gut“, findet Sinan. „Wir haben es übernommen und verinnerlicht. Es hat jetzt eine neue Bedeutung: Es meint Menschen, die ihre Rechte einfordern.“

Die „Çapulcus“ geben sich große Mühe, dem Premierminister keinerlei Angriffsfläche zu bieten. Immer wieder sieht man Menschen, die mit großen Müllsäcken durch die Straßen laufen und Müll einsammeln. Im Gezi-Park wurden Verhaltensregeln bekanntgegeben, um einen friedlichen Protest zu ermöglichen. Sinan selbst engagiert sich als Freiwilliger in einem Kommunikationsnetzwerk. Dieses Netzwerk versucht, eingehende Informationen zu verifizieren, bevor diese über verschiedenen Social–Media-Kanäle verbreitet werden. „Es sind viele Fehlinformationen verbreitet worden. Das wollen wir verhindern“, so Sinan. Seine Arbeit verrichtet er vor allem am Computer und am Telefon. „Wenn ich eine Meldung über Verletzte bekomme, rufe ich bei den jeweiligen Stellen an und versuche, die Informationen von den Ärzten bestätigt zu bekommen.“ Das Ziel des Netzwerkes ist es, den Menschen sowohl in der Türkei als auch im Ausland verlässliche Informationen zu liefern.

„Wir haben von vorangehen Protesten wie dem Arabischen Frühling oder Occupy Wallstreet gelernt. Wir wissen, welche Rolle soziale Medien spielen, wie wir uns verhalten müssen und wie wir die öffentlichen Medien in die Knie zwingen. Das hier ist der ausgereifteste zivile Widerstand des letzten Jahrzehnts“, findet Sinan.

Er ist sehr dankbar für die Unterstützung, die er und seine Freunde von Menschen aus aller Welt erhalten. Erdoğans Vorwürfe, die Proteste seien aus dem Ausland gesteuert, weist er jedoch als absurd von sich. „Ich weiß, wer neben mir protestiert. Da gibt es keine Beeinflussung von außen. Auch deswegen kämpfen wir gegen Fehlinformationen.“ Dennoch betont Sinan die Rolle der ausländischen Medien. So habe die Nachrichtenagentur Reuters mitten aus den Protesten heraus berichtet, während das türkische Fernsehen den Menschen eine Dokumentation über Pinguine zeigte. Dies bewegte Menschen dazu, vor den Sitzen des Fernsehsenders HaberTürk zu demonstrieren. Die türkischen Sender berichten nun zwar auch über die Proteste, doch in Sinans Augen berichten sie auf einer regierungstreuen Linie und sprechen immer wieder von den Protestierenden als Provokateuren.

Sinan ist auch dankbar für die Solidaritätskundgebungen, die überall im Ausland stattfinden. „Diese Menschen unterstützen uns sehr. Auch sie üben Druck auf unsere Medien aus.“ Ganz besonders betont er all jene Menschen, die selbst Videos und Fotos über die sozialen Medien verbreiten. „Dafür braucht man Rückgrat. Dafür braucht man einen Arsch in der Hose. Und ich bin ihnen so dankbar.“

Als Sinan von der Situation auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park spricht, schwingt Begeisterung in seiner Stimme. Seit knapp einer Woche ist dieser Bereich von den Protestierenden besetzt, die Auseinandersetzungen mit der Polizei haben sich in andere Gebiete verlagert. Der Gezi-Park wurde zum Zentrum und Symbol der Protestbewegung, Tausende campen hier, es gibt Konzerte, eine Bibliothek, Workshops zu unzähligen Themen, die Menschen feiern. Sinan beschreibt eine für ihn bis dahin unbekannte Solidarität zwischen Menschen, die sich nicht kennen. Selbst zwischen Menschen, die sich früher geweigert hätten, einander die Hand zu reichen. Ein Beispiel dafür sind die verfeindeten türkischen Fußballvereine Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe, die nun Schulter an Schulter protestieren. „Ich habe so viele wunderbare Dinge gesehen. Es ist wirklich außergewöhnlich.“ Er erinnert sich an Taksim als eine hektische, überfüllte Gegend mit großer Polizeipräsenz. „Trotzdem hat man sich dort nie sicher gefühlt. Jetzt ist die Polizei weg und die Menschen kontrollieren den Platz. Taksim war nie sicherer“, betont Sinan.

Diese Solidarität ist auch der Grund, aus dem Sinan überzeugt ist, dass die Bewegung erfolgreich ist. „Es geht nicht darum, ob sich etwas ändern wird“, stellt er heraus. „Es ist schon alles anders. Wir haben es geschafft, uns zusammenzuschließen.“ Die für den jungen Mann nun bedeutsame Frage ist, wann die Protestierenden den Platz verlassen werden. Und seine Antwort darauf ist bestimmt: „Wenn unsere Forderungen erfüllt sind.“

Sinan nennt die fünf Hauptforderungen von "Taksim Solidarity". Zuallererst soll der Gezi-Park ein Park bleiben. „Das steht außer Frage. Selbst, wenn der Platz vorher keine symbolische Bedeutung hatte – jetzt hat er sie“, erklärt Sinan. Doch bisher hält Erdoğan nach wie vor an seinen Umbauplänen fest. Als Zweites nennt Sinan die Forderung nach dem Rücktritt der Verantwortlichen für die Polizeigewalt. Der dritte Punkt fordert das Verbot des Einsatzes von Tränengas. Die Protestierenden fordern außerdem die Freilassung der im Zuge der Proteste inhaftierten Menschen. Und letztlich verlangen sie ein Ende der Einschränkungen in Bezug auf Versammlungen und Proteste in öffentlichen Räumen. Eine Militärintervention schließt der junge Mann allerdings aus, es sei nur eine verschwindende Minderheit, die das befürworte.

„Das sind unsere fünf dringlichsten Forderungen“, erklärt Sinan. Doch in seinen Augen dienen diese Forderungen zunächst dazu, die Solidarität zwischen den Menschen aufrecht zu erhalten. „Ihre Erfüllung wird den Leuten zeigen, dass wir gemeinsam etwas bewegen können.“ Doch das eigentliche Ziel geht in Sinans Augen weit über diese Forderungen hinaus. „Unsere wichtigste Forderung ist die Demokratie“, betont er. Und er ist überzeugt davon, dass der Premierminister irgendwann von seiner Position abweichen muss: „Das ist unser Land, das sind unsere öffentlichen Plätze, unsere Parks. Wir werden hier bleiben, bis wir bekommen, was wir wollen; bis wir eine bessere Demokratie haben.“








See some pictures here:


Berlin çapuling

Sonntag, 6. Januar 2013

Von Macken und Fotos

Istanbul.
Was soll man sagen - gerade erst angekommen, und doch ist meine Zeit hier jetzt auch fast schon wieder vorbei. Wie im Fluge. 

Istanbul tatsächlich im Fluge

Was ist denn eigentlich so passiert? "Nichts besonderes", wollte ich fast sagen. Das stimmt natürlich nicht. Nichts, das man jetzt in eine spannende Geschichte verpacken könnte. Aber für mich war es trotzdem ganz besonders. In dieser Stadt hier habe ich gelernt, zu beobachten. Das, was um mich herum geschieht, und das, was in mir geschieht. Ich gehe viel bewusster durch die Straßen als früher und sauge alles in mich auf. Ich freue mich, hier zu sein, mein Leben hier zu leben, die Sprache zu lernen, Menschen zu treffen, Freunde zu finden. Die kleinen kulturellen Unterschiede zu entdecken, die doch so viel ausmachen. Oder auch die ganz offensichtlichen Macken, die die Leute hier so haben.
Kurz vor Weihnachten hat es in Istanbul geschneit. (Nach Weihnachten war es dann aber wieder wunderschön warm und sonnig.) Es ist ja nicht so, dass da Tonnen von Schnee heruntergekommen sind. Nicht ganz wenig, das stimmt. Aber es war halt ein bisschen Schnee. 


Und es ist ja auch nicht so, dass das in Istanbul nie passiert. Als ich Ende Januar 2012 ankam, hat es auch geschneit. Und zwar wirklich viel und für eine recht lange Zeit. Aber trotzdem scheint Schnee in dieser Stadt sowas wie die Apokalypse zu symbolisieren. (Es war übrigens der 20.12., als es angefangen hat zu schneien! oh oh?) Man weiß gar nicht, was man machen soll, wenn es schneit. Istanbul hat jede Menge Berge (Hügel wäre untertrieben...) und so gut wie keine funktionstüchtige Kanalisation. Schon wenn es nur regnet, verwandeln sich die Straßen in wahre Flüsse. Wenn es aber schneit, liegt der Verkehr quasi lahm. Es hat ja auch noch nie jemand etwas von Winterreifen gehört. An besagtem 20.12. gab es auch prompt einen Unfall auf einer der zwei Bosporus-Brücken, mehrere Autos fuhren ineinander. Daraufhin wurde die Brücke komplett gesperrt. Das hatte immense Auswirkungen auf den (ohnehin katastrophalen) Verkehr in der ganzen Stadt. Den ganzen Tag kamen mir Menschen mit leidenden Gesichtsausdrücken entgegen. Verzerrte Gesichter, dicke Mützen, Leute, die sich warmen Atem in die Handflächen pusten und die Schultern hochziehen. "Das ist der kälteste Winter seit 30 Jahren!", habe ich Leute sagen hören. Lustig, im Februar war es auch schon der kälteste Winter seit 30 Jahren! Vielleicht wird es entgegen der allgemeinen globalen Erwärmung in Istanbul jedes Jahr wärmer... Sehr lustig jedenfalls, das Ganze. Ich dachte ja immer, ICH sei ein Schnellfrierer und Jammerer, aber ich wurde eines besseren belehrt.

Dies sei nur eine von vielen schönen Geschichten der letzten zwei Monate. Ansonsten vergehen hier die Tage mit Arbeiten - und ich mag meine Arbeit, ich treffe lauter total spannende und motivierte junge Leute! Da kommt man zu dem Schluss, dass es hier in Zukunft doch eigentlich nur besser werden kann. Und die Abende und Wochenenden? Mit Freunden, mit Türkischlernen, mit tollen Bars und schlechtem Bier, mit Spaziergängen, mit Hamambesuchen und Bazaren, mit viel viel Cay und viel gutem Essen, mit Musik, mit Entdeckungen, mit Spannung und Entspannung, mit einer verrückten kleinen Katze, die mich bestimmt noch auffrisst, bevor ich fahre... (Aber vorher frisst sie all meine Besitztümer!)



 
Komisch, wie diese Stadt einen fesselt. Wie man sich im wahrsten Sinne des Wortes in sie verliebt. Wenn ich auf der Fähre sitze, den Bosporus überquere und dabei auf Istanbuls Skyline, auf Sultanahmet mit dem Topkapi Palast, der Blauen Moschee und der Ayasofia schaue, dann klopft mein Herz.


Wenn ich morgens zur Arbeit laufe, komme ich immer an einer Ecke vorbei, von der man ein wunderbaren Blick den Hang hinunter hat - mitten in eine Ansammlung dieser bunten und irgendwie zusammengewürfelten Häuser, die so typisch sind für Istanbul. Auch dann muss ich jedes Mal in mich hineinlächeln. 


Da fällt der Gedanke an einen Abschied mehr als schwer. Istanbul hat mir viel gegeben, und das Jahr (na ja, die 9 Monate), das ich hier verbracht habe, war ein ganz bedeutendes und wunderschönes Jahr für mich. Was nicht heißt, dass immer alles super war. Was auch bei Weitem nicht heißt, dass an Istanbul alles super ist. Mitnichten. Aber Istanbul ist eine Stadt, die einen Willkommen heißt und die einem so viel zu bieten hat. Jeden Tag entdeckt man neue Dinge, jeden Tag trifft man neue Menschen. Eine Stadt mit irgendwas so um die 17 Millionen Einwohner, und mit Unmengen Reisender und Menschen aus aller Welt - dass man da auf interessante Menschen trifft, ist quasi vorprogrammiert.

Honig gefällig?

Und Istanbul lässt einen nicht mehr los. Hat man sich einmal in diese Stadt verliebt, kann man ihr schwer den Rücken kehren. Wenn ich mich mal so umgucke, ist es beeindruckend, wie viele Menschen hier hängen bleiben oder wiederkommen. In den letzten zwei Monaten habe ich viele Freunde aus dem ersten halben Jahr wieder getroffen. Manche waren nur zu Besuch da, andere für ein bisschen länger, wieder andere haben eine sich bietende Gelegenheit genutzt, den Besuch mit dem Nützlichen zu verbinden. Und auch die, die nicht wiederkommen, erzählen davon, wie gerne sie es tun würden. 
Ich würde sagen, Istanbul, wir sehen uns wieder. 





Und für noch ein paar Fotos guckt doch mal hier:


Istanbul die Zweite

Montag, 19. November 2012

Prozess gegen Journalisten in der Türkei auf Februar vertagt


- Forderungen der Anwälte abgelehnt - Hungerstreik nach offiziellen Angaben beendet -
In der Türkei ist die zweite Woche der Anhörungen gegen 44 Journalisten zu Ende gegangen. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder der „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK) und somit einer terroristischen Organisation zu sein. Mehrere internationale Beobachter waren beim Prozess anwesend, unter anderem der Vorsitzende der Europäischen Journalistenföderation Barry White.
Die fünf Prozesstage dienten die vor allem der teilweisen Verlesung der 800 Seiten umfassenden Anklageschrift. Am Montag hatte das Gericht mit der Verlesung begonnen. Dies geschah jedoch in Abwesenheit von Publikum, Anwälten und Angeklagten. Das Gericht hatte zuvor dem Angeklagten Kenan Kırkaya das Wort verweigert, als dieser sich zum Hungerstreik in türkischen Gefängnissen äußern wollte. Dies war für den Prozess von Bedeutung, da sich die inhaftierten Journalisten selbst im Hungerstreik befanden. Letztendlich verließen Angeklagte und Anwälte aus Protest den Saal, das Gericht fuhr alleine mit dem Prozess fort.
Anwalt Sinan Zincir forderte deswegen nach Angaben der Firat News Agency (NFA) am Dienstag, die am Vortag behandelten Seiten erneut zu verlesen. Dazu habe aber aus Sicht des Gerichtes kein Grund bestanden, da die Anwälte und Angeklagten dem Prozess aus freiem Willen ferngeblieben seien. Zudem berichtete NFA, Zincir habe das Gericht gefragt, warum die inhaftierten Hungerstreikenden am Vortag nach Ende der Anhörung nicht wie sonst mit Zucker und Salz versorgt worden seien. Dem Gericht zufolge habe die Gefängnisaufsicht erklärt, dies sei ihres Erachtens nach nicht nötig. Die Gefangenen bräuchten nur Wasser, da sie Salz und Zucker in Form von Kerzen, die sie nachts in ihren Zellen äßen, zu sich nähmen.

Am Ende der Woche formulierten die Anwälte ihre Forderungen. Sie wiesen erneut daraufhin, dass ein Großteil der Beweise gegen ihre Mandanten rechtswidrig zustande gekommen sei. Telefone seien abgehört und Emails abgefangen worden. Außerdem sei höchst fraglich, ob die anonymen Zeugen, auf deren Aussagen die Anschuldigungen zum größten Teil beruhen, überhaupt existieren. Die Anwälte erklärten wiederholt, sie seien durchgehend in polizeilicher Bürokratensprache verfasst. Anwalt Ramazan Demir erklärte, die Aussagen sollten von einem Professor für Kommunikationswissenschaften analysiert werden. Mit dieser Aussage unterstrich er, wie unglaubwürdig die Beweise in den Augen der Anwälte sind.
Die Verteidigung forderte deswegen, die Identität der geheimen Zeugen preiszugeben und die rechtswidrigen Beweismittel aus der Anklageschrift zu entfernen. Zudem forderten sie, das Justizministerium solle über den Hungerstreik ihrer Mandanten informiert werden. Richter Ali Alçık wies ihre Forderungen zurück. Über diese Dinge sei bereits im September entschieden worden, eine erneute Entscheidung sei also unnötig, so das Gericht. Letztendlich wurden nach Angaben der Zeitung Evresel die beiden Inhaftierten Çiğdem Alsan und Oktay Candemir freigelassen und der Prozess auf den 4. Februar 2013 vertagt.

Von den hungerstreikenden Angeklagten hatten sich fünf Dem Protest von Beginn an angeschlossen. Der Gesundheitszustand der Streikenden in türkischen Gefängnissen hatte sich in der letzten Woche immer mehr verschlechtert. Laut offiziellen Angaben befanden sich zuletzt 1700 Gefangene im Hungerstreik, einige davon inzwischen seit beinahe 70 Tagen. Andere Quellen sprechen von etwa 10000 Hungerstreikenden. Diese drastische Maßnahme, die den Forderungen nach einem Ende der Isolationshaft von PKK-Führer Abdullah Öcalan und dem Recht auf Bildung und Verteidigung in Kurdisch Nachdruck verleihen soll, wurde für die türkische Regierung zu einem immer größeren Problem.
Premierminister Erdoğan behauptete bei seinem Besuch in Berlin Anfang November, der Hungerstreik sei eine Lüge und existiere real gar nicht. Zeitgleich berichtete aber Justizminister Sadullah Ergin seiner deutschen Amtskollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, dass aktuell 683 Gefangene in 66 türkischen Gefängnissen die Nahrungsaufnahme verweigerten.

In der türkischen Stadt Izmir kam es Ende letzter Woche zu einer Demonstration von Angehörigen der Hungerstreikenden. Diese forderten ein sofortiges Einlenken der Regierung. Viele Mütter von Inhaftierten schlossen sich dem Protest an. Sie forderten eine Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts und appellierten dabei vor allem an das Gefühl der Menschen.  Hazal Suncak, die selbst Angehörig im Gefängnis hat, erklärte der Onlinezeitung Bianet: „Wir wollen nicht, dass junge Menschen in diesem Land sterben. Weder die in den Bergen noch die im Militär. Die  Mütter haben genug gelitten. Wir rufen die Regierung an, wir rufen alle an.“

Samstag Abend nahm der Hungerstreik eine überraschende Wendung. Öcalans Bruder Mehmet Öcalan hatte an diesem Tag den PKK-Führer auf der Insel Imralı besucht, wo er seit 1999 in Isolationshaft sitzt. Laut türkischen Medien habe dieser ihm den Auftrag gegeben, die kurdischen Gefangenen und Politiker zum sofortigen Ende des Hungerstreiks aufzurufen. „Diese Aktion hat ihr Ziel erreicht. Sie sollten den Hungerstreik unverzüglich beenden“, so die Worte Abdullah Öcalans.
Daraufhin seien Abgeordnete der pro-kurdischen Partei BDP in verschiedene Gefängnisse gegangen, um die Botschaft Öcalans bekannt zu geben.
Laut Angaben der Zeitung Turkishpress beendeten im Gefängnis von Buca, einem Vorort von İzmir, 520 Inhaftierte ihren Hungerstreik sofort, nachdem ihre Anwälte ihnen die Botschaft überbracht hatten. Die türkischen Medien erklärten den Hungerstreik am Sonntag, den 18. November 2012 für beendet.

Donnerstag, 15. November 2012

„Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum“

Diesen Montag wurde in einem Vorort von İstanbul der KCK-Prozess gegen 44 Journalisten forgesetzt. 38 von ihnen sind seit Monaten ohne Verurteilung in Haft. Eben diese 38 haben sich auch dem Hungerstreik in türkischen Gefaengnissen angeschlossen. 5 von ihnen haben seit über 60 Tagen keine Nahrung zu sich genommen. Und was tut das türkische Gericht? Es verhandelt lieber für sich alleine. Ohne Publikum, ohne Anwaelte und ohne Angeklagte. Es waere laecherlich, wenn es nicht so traurig waere.

Ich bin am ersten Prozesstag nach Silivri gefahren, um mir dieses Trauerspiel anzusehen. Hier meine Beobachtungen vom 12.11.201, veröffentlicht auf der Website der Deutschen Journalistinnen und Journalisten-Union (DJU) in ver.di 
 
„Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum.“
Fortsetzung des Prozesses gegen 44 Journalisten in Istanbul.


Es ist ein sonniger Wintertag in der türkischen Stadt Silivri, einem Küstenort etwa 80 km entfernt von Istanbul. Den meisten Bewohnern der Großstadt ist er vor allem als willkommener Ausflugsort für einen Tag am Strand bekannt. Doch nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt wurde am heutigen Montag der Prozess gegen 44 überwiegend kurdische Journalisten fortgesetzt. 38 von ihnen befinden sich seit Monaten in Haft. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder einer terroristischen Organisation zu sein. Es handelt sich dabei um die KCK, den zivilen Arm der Arbeiterpartei Kurdistands (PKK). Überschattet wird der Prozess, der Mitte September vertagt wurde, vom Hungerstreik der Inhaftierten.
Gerichtsgebäude in Silivri
Der erste von fünf angesetzten Prozesstagen endete jedoch sehr schnell. Das Gericht kam nicht über die Überprüfung der Anwesenheit hinaus. Wie auch zu Beginn des Prozesses antworteten die Angeklagten mit „Ez li virim“, „Ich bin hier“ auf kurdisch. Und ebenso wie zu Prozessbeginn tat Richter Ali Alçık so, als habe er das nicht bemerkt. Auch ihre Adresse gaben die meisten Angeklagten in ihrer Muttersprache an. Manche von ihnen sagten jedoch statt dessen „Ez weger daxwazim“, „Ich möchte einen Übersetzer“. Auch hier reagierte der Richter mit den Worten „Das ist Ihre Adresse. Setzen Sie sich.“ Er ließ sich scheinbar durch nichts von der vorgesehenen Prozedur abbringen.
Als der Angeklagte Kenan Kırkaya sich jedoch erhob und ankündigte, er wolle zum Hungerstreik Stellung nehmen, verweigerte Alçık ihm das Wort. Dieses Thema habe mit dem Prozess nichts zu tun.

In der Türkei befinden sich zur Zeit mehrere Tausend inhaftierter Kurden im Hungerstreik. Um ihren Forderungen nach dem Recht auf Ausbildung und Verteidigung vor Gericht in Kurdisch und dem Ende der Isolationshaft des PKK-Führers Abdullah Öcalan Nachdruck zu verleihen, traten sie am 12. September in den Hungerstreik. Einige von ihnen haben seit über 60 Tagen keine Nahrung zu sich genommen. Viele weitere Inhaftierte schlossen sich in den letzten Wochen dem Streik an.

Kırkaya bestand im Gerichtssaal darauf sich zur Sache zu äußern. Als andere Angeklagte in in der Diskussion mit dem Richter unterstützten, drohte dieser, Kırkaya aus dem Saal bringen zu lassen. Daraufhin erhoben sich alle Angeklagten und erklärten, sie werden den Raum gemeinsam verlassen. Der Richter reagierte darauf mit einer Unterbrechung der Verhandlung für 15 Minuten und einer Räumung des gesamten Gerichtssaales. Unter dem Applaus der Zuschauer verließen die Angeklagten den Raum.

Damit war der öffentliche Teil der Verhandlung für diesen Tag jedoch beendet. Das Gericht erklärte, aufgrund des Protestes im Publikum sei dieses nun im Saal nicht mehr zugelassen. Die Anwälte protestierten, die Angeklagten weigerten sich, unter diesen Umständen zurückzukehren. Letztendlich verließen auch die Anwälte das Gericht als Zeichen des Protestes. Dieses setzte die Verhandlung alleine fort.
„Im Gerichtssaal sind keine Anwälte, keine Angeklagten und keine Zuschauer, nur der Richter und die Staatsanwaltschaft. Und die lesen sich die Anklageschrift jetzt selber vor“, erklärte Eren Keskin, eine der Anwältinnen. Sie erklärt, alle 38 inhaftierten Angeklagten seien im Hungerstreik, fünf von Ihnen schon seit dem ersten Tag. Ihnen gehe es dementsprechend schlecht, sie hätten sehr stark abgenommen. Als ihre Mandanten sich vor Gericht erklären wollten, sei Ihnen dieses Recht abgesprochen worden. In diesem Verfahren gehe es um Journalisten, aber in der Türkei würden Kurden aller Professionen kriminalisiert. „Die kurdischen Rechte sind seit der Gründung der Republik außer Kraft“, so Keskin.
Pervin Bulda, Abgeordnete der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) erklärte, die Forderungen der Angeklagten seien alle angemessen, die Türkei würde den Menschen aber keine Möglichkeit bieten, dafür einzutreten. Damit werde gegen die Prinzipien des Rechtsstaates verstoßen. Man müsse den Weg bereiten für Veränderung, hin zu Frieden, Demokratie und Menschenrechten. Auch Bulda verurteilt die Entscheidung des Gerichts: „Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum, ohne die Anwälte, und ohne die Angeklagten.“ 
Pressekonferenz der Anwälte
Unter den Beobachtern des Prozesses war auch Belma Yıldıztaş mit ihrer sechs Monate alten Tochter Zerya Zin. Ihr Mann, der 30-jährige İsmail Yıldız, ist einer der Angeklagten. Die Vorwürfe gegen ihn beruhen – wie so viele andere auch – auf rechtswidrig aufgezeichneten Telefonaten, abgefangenen Emails und widersprüchlichen anonymisierten Zeugenaussagen. Angeblich sei er der Presseverantwortliche der Terrororganisation gewesen. Als freier Journalist hatte Yıldız für verschiedene Zeitungen berichtet, darunter auch die in der Türkei verbotene Fırat News Agency, die ihren Sitz in den Niederlanden hat.
Belma Yıldıztaş
„Der Staat weiß nicht, was er tun soll“, erklärte Belma. „Deswegen wird der Prozess immer weiter hinausgezögert und verlängert. Solange der Staat keine Entscheidung trifft, können wir nur warten.“ Seit Dezember letzten Jahres sei ihr Mann im Gefängnis. Die Geburt seines Kindes habe er nicht miterlebt. Sollte er verurteilt werden, drohen ihm bis zu 12 Jahre Haft.
Seit einer Woche befindet auch Yıldız sich im Hungerstreik. Seine Frau lehnt diese Form des Protests kategorisch ab. Sie erklärte außerdem, ihr Mann und viele andere hätten sich aus Solidarität angeschlossen. „Die meisten von ihnen streiken nicht dauerhaft. Sie hungern für etwa zehn Tage, dann machen sie eine kurze Pause.“ Um Yıldız’ Gesundheit sei sie deswegen nicht besorgt.

Anders ist die Lage der Hungerstreikenden, die seit über 60 Tagen die Nahrungsaufnahme verweigern. In der Stadt Siirt im Südosten der Türkei sind heute die ersten vier Streikenden in den Krankenhaustrakt des Gefängnisses verlegt worden. Sie waren zu schwach, um mit ihren Anwälten zu sprechen.
Fethi Bozçalı ist Vorstandsmitglied der türkischen Ärztekammer. Sie wollen eine Gruppe von Ärzten in die Gefängnisse schicken, um die Gefangenen zu betreuen. Seit einem Monat versuchen sie schon, die Erlaubnis dafür zu bekommen. Bisher ohne Erfolg. „Man schickt uns vom Justizministerium zum Oberstaatsanwalt zum Gefängnis und wieder zurück “, so Bozçalı. “Wir sprechen uns für das Recht auf Leben aus, wir wollen wegen des Hungerstreiks keine Menschen sterben sehen. Was wir wollen sind Lösungen, keine Toten.”
144 Hungerstreiktote habe es in der Türkei seit den 1980ern gegeben. Er selbst war bei den Streiks 1996 und 2000 als Arzt bei den Hungernden. Ihm zufolge ist es schwer, die mögliche Höchstdauer eines solchen Protests in Tagen zu fassen. „Ich habe schon Menschen nach dem 50. Tag sterben sehen. Vielmehr wird die Situation kritisch, wenn die Streikenden 15% ihres ursprünglichen Körpergewichts verloren haben.“
Ob die Ärzte in die Gefängnisse dürfen, ist immer noch unklar. Bozçalı ist besorgt. „Ich habe Menschen in meinen Händen sterben sehen. Aber dieses Mal ist es anders. Dieses Mal lassen sie niemanden hinein.“